Wir wohnen im Zentrum der Ville nouvelle,
die die Franzosen seit 1916 angelegt hatten.
Das im Internet schlecht
kritisierte Hotel Wassim entpuppt sich als das schönste bisher. An unserem
Zimmer, groß, praktisch eingerichtet, mit riesigem Badezimmer, ist kein
Fehl und Tadel. Aus dem Fenster schauen wir auf einem Park mit Palmen, und
einen Blick erhascht man vom Boulevard Hassan II mit seinen Springbrunnen und
Grünanlagen.
Im Tagebuch habe ich fast nichts notiert. Nur, dass es
Zores mit unserem marokkanischen Reiseleiter gab. Aber vorerst quartieren wir
uns im Hotel ein, und nach dem Abendessen trinken wir und ein paar andere der
Gruppe auf dem prächtigen Boulevard Hassan II einen einheimischen
süßen Pfefferminztee. Es ist das einzige Cafe, in dem Alkohol
ausgeschenkt wird und in dem Frauen zu sehen sind. Sonst sind alle Lokale den
Boulevard entlang fest in der Hand von Männern, und ich würde mich
dorthin nicht setzen wollen, auch nicht mit Hans. Ein Straßenmusikant
unterhält uns mit arabischen Melodien, die er auf einem Seiteninstrument
zupft. Hans findet, er hat zehn Dirham verdient, das sind 90 Cent.

Am
nächsten Morgen werden wir mit dem Bus zu einem Aussichtspunkt gebracht,
von dem aus man einen herrlichen Blick auf die Altstadt von Fès hat.
Noch viele andere Busse parken hier, alle Gruppen lauschen auf die Worte ihres
Reiseleiters. Unser Reiseleiter spaziert mit dem Handy am Ohr umher, und wir
wissen nicht, wo wir uns eigentlich befinden.
Von der österreichischen
Reisebegleitung hören wir, dass unser Reiseleiter nicht mit uns
weiterfahren will, weil es Beschwerden gab. Wir sind etwas perplex. Und das am
Tag des "Höhepunkts der Reise"!
Schließlich bleibt Mohamed
diesen Tag noch bei uns, aber eher lustlos. Von den Problemen der Stadt
erfahren wir nichts. Ich frage ihn, ob die Jungen nicht von der gedrängten
übervölkerten Welt der Altstadt weg wollen - immerhin wohnen 300 000
bis 400 000 Menschen in der Medina. Er sagt nur: "Nein". Im Reiseführer
lese ich, dass es im Gegenteil einen "Zuwanderungsdruck" gibt, dass die
Altstadt von Fès "ein Magnet der Landflüchtigen aus dem Umland"
ist, und dass dieser Trend durch Steuerprivilegien für die Medina-Bewohner
noch verstärkt wurde.
1976 beschloss die UNESCO, die Medina von
Fès auf die Liste des schützenswerten Weltkulturerbes zu setzen und
seither wird an Bau- und Sanierungsmaßnahmen, ökonomischen
Projekten, Infrastrukturausbau und ökologisch-kulturellen Projekten
gearbeitet, die die Stadt retten sollen.
"Fès ist ein einzigartiges
Ensemble aus Moscheen und Medersen, Stadthäusern und Palais, Fondouks und
Karawansereien, Werkstätten und Souks, Brunnen und Heiligtümern,
Stadtmauern und Befestigungen, Gassenlabyrinthen und Gartenanlagen,
Friedhöfen und Riads, Badehäusern und Kanalisationssystemen
.
," lese ich.

Durch dieses schleust uns Mohamed, er in der weißen
Djellabah an der Spitze, wir mit Fotoapparaten hinterher. Die Gassen sind oft,
scheint es, nur einen Meter breit, dicht bevölkert, viele von
Geschäften gesäumt. "Attention" ertönt es oft hinter und vor
einem. Und nur ein- oder zweimal ist es ein Radfahrer, der durch die Menge
will. Sonst sind es immer mit Lasten aller Art beladene Esel oder Maultiere mit
ihren Treibern, die sich an uns vorbei drängen. Einige Stunden wandern wir
so durch diese bunte gedrängte fremde Welt auf und ab, hin und her durch
das Gassengewirr, unterbrochen vom Besuch in einer Koranschule und in
traditionellen Handwerkstätten. Wir kehren ein bei einem Metall
verarbeitenden Betrieb, der getriebene Messingteller, Emailarbeiten auf Bronze,
Silberschmuck und anderes mehr herstellt oder vertreibt. In aller Hektik, denn
Zeit ist Mangelware, erwerben wir zwei Schüsselchen, verziert mit Pfauen
und Blumen.

Weiters besuchen wir das Gerberviertel und hier eine Gerberei.
Nasenbetäubender Gestank hängt über der ganzen Gegend. Wie oft
an diesem Tag öffnen sich schmale Eingänge in den engen Gassen in
mehrstöckige Häuser mit weiten Räumen und prächtigen
Innenhöfen. Durch Fluchten von Verkaufsräumen mit einem
unbeschreiblichen Angebot von Lederwaren aller Art werden wir auf eine Galerie
in einem Oberstock geführt, und es bietet ein unglaublicher Anblick: Uns
zu Füßen zwischen den Mauern der alten Häuser erstreckt sich
ein großer Platz voll riesiger Bottiche, in denen vorwiegend Schafffelle
vom Pelz befreit und anschließend gefärbt werden.

Die Arbeiter
stehen in den Gefäßen mit den stinkenden Flüssigkeiten und
schwenken die Felle im Akkord. Ich zitiere das Dumont-Reisetaschenbuch: "Unter
extrem harten Bedingungen arbeiten die Gerber hier in der prallen Sonne, bis zu
den Knien in den Farbbottichen stehend, den ätzenden Laugen wie einem
bestialischen Gestank ausgesetzt - die Touristen fotografieren derweil von der
Panoramaterrasse aus
.". Eigentlich wollte ich einen marokkanischen
Sitzpolster kaufen, aber in diesem Milieu vergeht mir jede Kauflust. Auch ist
wie immer die Zeit knapp.

Mittagessen in typischem Ambiente,
Majolikafliesen an den Wänden, gemütliche Polsterbänke und
Hocker um runde Tische in einem glasüberdachten Innenhof mit einer Galerie
auf Höhe des ersten Stocks. Wir bekommen marokkanisches Essen: Tagine,
Couscous, und einen süßen Blätterteigkuchen gefüllt unter
anderem mit Taubenfleisch, eine lokale Spezialität. Hans hat das bestellt,
ich ein Couscous. Aber das marokkanische Couscous ist ohne Soße, die
sieben Gemüse bestehen hauptsächlich aus Kartoffeln. Hans
überlässt mir die Hälfte seines Taubenkuchens, der köstlich
schmeckt.

In der Spinnerei, in der es Schals aus Agavenseide gibt, schlage
ich zu. Ich kaufe fünf in herrlichen Farben chanchierende Tücher und
bin froh, nun den Großteil der Mitbringsel gesichert zu haben.
Außerhalb der Medina liegt die Keramikfabrik, in die uns Mohamed zum
Abschluss führt - d.h., er bleibt wieder vor dem Tor und übergibt uns
einem Deutsch sprechenden Herren in Djellabah. Die Fabrik ist durchzogen von
schwarzgrauen Rauchschwaden aus den Brennöfen, beheizt mit Oliventrester.
Viele von uns müssen husten. Wir werden durch die Produktion geschleust,
auch durch die Räume, in denen an den Wänden junge Leute, vorwiegend
Männer, kauern, die die Teller, Schüsseln, Tagine-Kochtöpfe und
Fliesen bemalen. Auch hier erfüllen einen die Arbeitsbedingungen je nach
Temperament mit Mitleid oder Wut. Aber wahrscheinlich sind die jungen Leute
froh, überhaupt eine Arbeit zu haben.


Das schönste Erlebnis
in Fès ist für mich die Fahrt mit dem "Train touristique" durch die
Dämmerung der nouvelle ville. Gleich ums Eck bei unserem Hotel auf dem
parkähnlichen Hassan II-Boulevard ist der Start der weißen
Liliputbahn. Obwohl schon Oktober ist die Abendluft so mild, dass uns der
Fahrtwind angenehm um die nackten Arme bläst. Im ohrenbetäubenden
Lärm des Stadtverkehrs zur Rush-hour rattert unser Bähnchen zuerst
auf der Fahrbahn rechts und links der Grünfläche, auf der die
Bewohner und Bewohnerinnen von Fès sich ergötzen, den Boulevard
hinauf und wieder hinunter. Dann stechen wir in die Mellah, das jüdische
Viertel hinein, das am Vormittag ausgestorben war, jetzt aber voll leuchtender
Auslagen und kaufender Menschen ist, die Liliputbahn erkämpft sich auch
hier ihren Weg. Wir wissen weder, wo wir hinfahren noch wo wir uns befinden,
helle Plätze mit viel Verkehr, belebte Straßen mit Männern und
Frauen in europäischen, aber noch mehr in langen marokkanischen Trachten,
beleuchtete Wasserfontänen, Palmen und prächtige Eingangstore -
vielleicht alle zum Königspalast, denn wir fahren weite Strecken an mit
Zinnen geschmückten Mauern entlang - flitzen an unserem kleinen Zug
vorbei, und nach 45 Minuten steigen wir aus, als wären wir in einem Film
über tausend und eine Nacht gesessen.




