Die
Kirschenbäume blühten, der Fuji zeigte sich nach Sturm und Regen, die
japanischen Freunde verwöhnten uns, und die Interviewpartnerinnen- und
Partner erzählten interessante Geschichten für die
Biographie von Imai Yasuko.
Zudem war das Preisniveau während der Studienreise in Japan im April
2008 dank dem für Euro-Gäste billigen Yen zum ersten Mal seit
Jahrzehnten ähnlich, in manchem sogar niedriger, als bei uns.
Der regenreichste April seit der
Meiji-Zeit - die endete 1912!
Und doch empfingen uns schwelgerisch
blassrosa und weiß blühende Kirschenbäume schon bei der Fahrt
vom Flughafen Narita in die Metropole Tokyo. Als hätten sich die Wolken
vom Himmel in Japan niedergelassen, in jede Hügelsenke und in jeden Wald,
entlang jeder Allee und zwischen die Häuser, so eng verbaut können
die Gassen, so winzig die Gärtchen gar nicht sein.
Das ganze Jahr sind die Kirschenbäume in
unscheinbares Grün gehüllt, bis sie von Mitte März bis Ende
April - je nach Jahr, Art und Region - plötzlich ganz Japan dominieren.
Und zwar nicht nur ihr Anblick, sondern auch als Thema in den Medien, bei jedem
Gespräch, in der Musik, in der Gastronomie, in der Kleidung, und bei
Geschenkartikeln: Taschentücher, Fotobücher,
Stäbchenständer, Tragetücher , Wandbilder, Brillenfutterale,
Briefpapiere, Schreibblöcke etc.etc. Alles voll mit den gezackten
fünfblättrigen Blütenblättern der
sakura.
In Hamamatsu erblühten zwei
große Kirschbäume vor dem Fenster des Gästezimmers im
Altersheim "Hamanako Eden no sono" (Garten Eden am Hamana-See). Verließ
ich das Haus begleiteten mich blühende Kirschbäume bis zur
Busstation. Auf der Fahrt nach Kyoto, der "alten Kaiserstadt", schwebten sie
entlang des Super Express Shinkansen, und natürlich säumten sie den
kleinen Bach am berühmten Philosophenweg oder
tetsugaku no
michi, wo sich die Touristen beim
hanami, dem
Blütenschauen, drängten. Dort wie auch bei unserem Ausflug nach
Arashiyama im Westen von
Kyoto, mit Brücke und Fluss, Tempeln und Bergen, war der Himmel grau. Doch
die weißen oder zartrosa Blüten sendeten ihr eigenes Strahlen aus.
Kirschenblüten machen
glücklich. Aber natürlich auch der Anblick des
Fuji. Als wir an einem
Dienstag früh mit dem "Romance Car" der Odakyu-Linie Richtung
Hakone rollten, glaubten wir
nicht an die Versprechungen des angepeilten Hotels, dass wir von dort den 3776
m hohen Berg Fuji sehen würden. Sturm und Regengüsse rüttelten
an den Wagons. Alle paar Minuten entschuldigte sich die Stimme des
Zugsbegleiters per Lautsprecher wortreich, dass der Zug wegen des Unwetters
langsamer fahren müsse. Er konnte aus diesem Grund auch nicht an sein
Ziel, Hakone Yûmoto in den Bergen, gelangen,
sondern nur bis zur Burgstadt am Meer, Odawara. Die Bergbahn und die Seilbahn
über den Ashi-See zu Füßen des Fuji war ebenfalls eingestellt.
Mit einem Bummelzug und schließlich mit dem Hotel eigenen Bus gelangten
wir doch noch zum Green Plaza auf über 800 m Höhe.
Der
Frühling hatte in der Gegend noch nicht vorbeigeschaut. Winterkahle
Hügel und Berge, dräuende Wolken, heulender Wind. Aber ein Zimmer im
japanischen Stil mit Tatami-Boden und eine dampfende
onsen, die
japanische Variante des Thermalbades, erwarteten uns. Hier vergnügen sich
Männer und Frauen getrennt. Mit einigen fremden Japanerinnen splitternackt
im Freiluftpool suchten wir gemeinsam am Nachthimmel nach Sternen. Und
entdeckten welche. Daraufhin hofften wir alle auf ein Wunder und den
versprochenen Fuji-Blick - und es geschah.
Als ich am nächsten Tag um sechs Uhr früh die
Vorhänge zur Seite schob, ragte der schneeweiße Gipfel des Fuji wie
eine Fata Morgana in den blitzblauen Himmel. Vor Freude wurden wir dichterisch,
denn ein Haiku ist die einzige adäquate Antwort auf diesen Anblick. Wie im
Film kam ich mir vor, während ich etwas später im dampfenden
Freiluftpool mein Morgenbad nahm und mich vom Bild des weißen Fuji nicht
lösen wollte.
Noch einmal begegneten wir dem
Winter bei dieser Japanreise und zwar in Sapporo, der beinahe
Zweimillionenstadt hoch oben im Norden, auf der Insel Hokkaido. Hier hatte ich
vor genau vierzig Jahren einen ganzen Winter erlebt. Die nachfolgenden
olympischen Spiele und andere Entwicklungen hatten Sapporo total
verändert. Ich erkannte nichts mehr außer dem parkähnlichen
Odori-Boulevard.
In Sapporo hatte ich Ende 1967 Yasuko Imai kennen
gelernt, die mich bei meiner
Doktorarbeit über den
Dichter Ishikawa Takuboku unter ihre Fittiche nahm. Nun traf ich einige
Interviewpartner aus ihrer Jugend im Raum für Schulabsolventen des
Sapporo-Westgymnasiums. Die erste Frage stellte nicht ich, sondern Imai sans
Kollegin aus der damaligen "Vereinigung für Studentinnen der
Hokkaido-Universität", eine sehr energische, überaus aktive Dame:
"Wieso in aller Welt machen Sie gerade über Imai Yasuko eine Biographie,
was soll denn an ihrem Leben besonders interessant sein, sie ist doch
überhaupt nicht typisch für die japanischen Frauen?" Trotzdem war sie
es gewesen, die die Interview-Runde zusammen getrommelt hatte und mir für
den nächsten Tag noch einen "
koibito", einen Freund bzw. Liebhaber,
und eine weitere Freundin Imai sans zum Interview anbot. An diesem Nachmittag
wie auch bei den anderen insgesamt 18 Gesprächen, die ich in Sapporo,
Hamamatsu, Kyoto und Tokyo führte, zeigte sich ein widersprüchliches
Bild meiner "Heldin".
Alle GesprächspartnerInnen in Sapporo hatten das
"sehr liberale" Westgymnasium gesucht und nachher in irgendeiner Weise mit der
linken Studentenbewegung zu tun gehabt, die in den fünfziger Jahren bis
1960 vehement gegen die Verlängerung des Sicherheitsvertrages mit den USA
eintrat. Der Begriff "
Zengakuren" für die kämpferischen
japanischen Studenten mag manchem Älteren bekannt scheinen. Auch Imai
Yasuko war dabei. Aber ihrem quasi Verlobten war sie damals sehr traditionell
vorgekommen, und er hatte sie für ein anhängliches japanisches
Mädchen gehalten, bis sie nach drei Jahren plötzlich mit ihm Schluss
machte. Aus heiterem Himmel. Er war "heartbroken". Das schon, meinte er, sie
habe nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie berufstätig sein wolle.
Wie mit ihm, so begann auch mit dem späteren Freund die Beziehung auf ihre
Initiative, und wiederum war sie es, die die Beziehung beendete. So sieht es
jedenfalls dieser, ein noch immer einnehmender älterer Herr, den die
Teilnahme an der Studentenbewegung seine Karriere kostete.
Die
Charakterisierung Imai sans reicht von "
jônetsuteki"
(leidenschaftlich, enthusiastisch, temperamentvoll) bis
"jimi" (einfach,
schlicht, zurückhaltend, unauffällig). "
Hijô ni aijô
ga tsuyoi" (ungemein stark in der Liebe) nennt sie ein ehemaliger
Professor. Als ich frage, ob diese Aussage ihre Leidenschaft für die
Wissenschaft betreffe oder sich auf Männer beziehe, antwortet er "Beides."
Die energische Studienkollegin wiederum meint, Imai san sei eine "
sugoku
futsû onna no tomodachi" gewesen, eine ganz gewöhnliche
Freundin. Yasukos Schwester in Tokyo erinnert sich an sie als einen "Wildfang".
Alle erinnern sich an sie als an einem Menschen, die für eine Japanerin
ungewöhnlich direkt sagte, was sie dachte.
Von ihren ehemaligen hunderten oder vielleicht tausenden
Studentinnen traf ich natürlich nur wenige, diese hat sie jedoch
nachhaltig in ihrer Lebensgestaltung beeinflusst. "Sie war der wichtigste
Mensch für mich. Ohne sie wäre mein Leben anders verlaufen", sagt
eine, als ich sie frage, ob die Begegnung mit Imai san von Bedeutung für
sie war. In der Takuboku-Forschung sei sie für die heutigen Studenten
"eine Art
kamisama", eine Gottheit, erzählen zwei Vertreter dieser
Zunft. Allerdings vermuten viele Gesprächspartner, dass sie ohne die
schweren Krankheiten in der zweiten Lebenshälfte viel mehr produziert und
bewirkt hätte.
So endet jede Japan-Reise auch mit Wehmut. Viele
Abschiede. Zurück bleibt Imai san in ihrem Rollstuhl im "Garten Eden am
Hamana-See". Aber immerhin waren wir zusammen unter den blühenden
Kirschenbäumen spazieren, und Imai san summte dabei sogar ein kleines
Lied: "
Sakura, sakura
.". Zum Abschied sagte sie: "
Nani yori mo
tanoshikatta", "Vor allem war es schön". Und das gilt auch für
mich.
Siehe auch: Japan-Aufenthalt Herbst 2003,
Japan 2003 - Herbst in
Hamamatsu, Studienreise nach
Japan 2006, Studienreise nach
Japan 2008, Imai Yasuko
Kurzbiographie