Wenn erst Friede ist  © 2005

HINTERLAND - KOMMENTAR

Angst und Hoffnung



"Krieg ist etwas Grauenhaftes. Ich hab immer gesagt, wenn Frauen, Mütter und Bräute wüßten, wie es den Männern da draußen geht, sie würden niemanden hinauslassen. Es gäbe keinen Krieg!"
Hansi Nowotny, heute Schwester Johanna Jakob, hat den Krieg in Rußland zwei Jahre lang in einem deutschen Lazarett miterlebt Ein wenig von den "vielen interessanten Dingen", die sie am 28.9 1943 Vally Kittel berichtete, läßt sie an einem heißen Sommernachmittag des Jahres 1986 für mich wieder in ihrem Gedächtnis aufsteigen. Rundherum Gärten und Bauernhäuser - wir sind in Jesenwang, einer kleinen Gemeinde bei München. Seit 1944 lebt Hansi Nowotny in Deutschland, weil sie damals in Österreich keine Arbeit gefunden hat.
    Im Juni 1943 war sie nach neun Jahren aus Rußland zurückgekehrt. Nachdem sie in der Zwischenzeit durch die Heirat mit einem deutschen Emigranten, der dann den stalinistischen Säuberungsprozessen zum Opfer fiel, vorübergehend Sowjetbürgerin geworden war, mußte sie nun als "Volksdeutsche" wieder um die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft einkommen.
    Den Anstoß für das russische Abenteuer hatte der Bruder gegeben, der nach dem Februar-Aufstand von 1934 über die Tschechoslowakei nach Charkow in die Ukraine emigriert war. Hansi folgte ihm, weil sie in Wien stellenlos war, aber "eigentlich" nicht aus politischen Gründen. Sollte sie damals eine Vorliebe für den Sozialismus á la Sowjetunion gehabt haben, so verwandelte sich diese jedenfalls durch das Schicksal ihres Mannes und seiner Familie ins Gegenteil. Als die Deutschen 1941 Charkow einnahmen, meldete sie sich bei der Wehrmacht und zog als Schwester im Feldlazarett der "Kleeblattdivision" durch die Ukraine, erlebte Vormarsch und Rückschläge, schließlich die Flucht Richtung Heimat. Frau Jakob: "Im Sommer 1943 hat schon jeder gewußt, was es geschlagen hat, man konnt' sich's ja ausrechnen - nur, sagen durfte man es nicht!"

Das Schicksal schien es zu diesem Zeitpunkt mit Toni Kittel gut zu meinen, denn die Schwerhörigkeit und der Nervenschock, die er nach einem Granatwerfereinschlag davongetragen hatte, ersparten ihm, den zermürbenden Rückmarsch der Deutschen mitzumachen. Toni Kittel verbrachte die letzten eineinhalb Jahre seiner Dienstzeit beim Militär "v.h." zur Verwendung in der Heimat, zuerst in Mistelbach, wo sein Regiment beheimatet war, dann im Lager Steinberg nördlich von Wien. Valerie: "Sie haben das Erdölgebiet bewachen müssen."
    Allerdings muß Toni sich Ende September 1944 neuerlich eine Erkrankung der Beine zugezogen haben, denn am 19.12 schrieb er: "Mein Fuß heilt sehr schön ... " In den Notizbüchern Vallys, die für die Periode Herbst 1943 bis Frühjahr 1945 als Erinnerungsstützen herangezogen worden sind, liest man von "Besuchen im Lazarett". Auch relativ häuftge Besuche zu Hause und Urlaube scheinen auf. Im Februar landete Toni schließlich wieder in Znaim, und der Kreis schließt sich.

Die Endphase des Krieges bedeuteten eineinhalb Jahre der Angst und der Hoffnung, wobei die Angst Tag für Tag durch tatsächliche Vorkommnisse genährt wurde, die Hoffnung aber nur als Wunschbild zum Durchhalten diente.
    Da war einmal die Angst vor dem Starrsinn und dem zunehmenden Wahnsinn der "eigenen" Seite, der nationalsozialistischen Führungsgarnitur. Die von Toni Kittel so bewunderte Stadt Breslau fiel diesem Starrsinn zum Opfer. Hitler erklärte sie zur "Festung", ließ Frauen und Kinder evakuieren und gab die Stadt dem Angriff preis.
    Die Verfolgung der politischen Gegner wurde immer hektischer, je größer ihre Zahl wurde. Im Februar 1945 führte man im Reichsgau Wien die Standgerichtsbarkeit ein, und zwar, um "Pflichtvergessene für alle Straftaten, die die deutsche Kampfkraft und Kampfentschlossenheit gefährden" zu bestrafen. Damit wollte man in erster Linie dem zunehmenden Trend zum Desertieren entgegentreten.
    Im Oktober des Vorjahres hatte man bereits den Volkssturm geschaffen. 16- bis 60jährige Männer sollten im letzten Aufgebot in die verlorene Schlacht geworfen werden. Wer konnte, drückte sich davor. Ernst Holzfeind trieb einen Arzt auf, der ihm sein Bein von oben bis unten in Gips legte. Hilde Uhlir ergriff für ihren Mann die Initiative: "Ich bin mit ihm hinein in das Gymnasium in der Astgasse, wo er sich zum Volkssturm melden mußte. Ich hab ihm den Rucksack getragen. Dort haben sie zu mir gesagt: ,Ja, was tun denn Sie da?' Ich hab gesagt: ' Mein Mann ist krank, ich muß sehen, wo ich den Rucksack hinstellen kann.' Daraufhin wurde er zum Arzt geschickt, und die Aufregung, alles hat mitgespielt ... auf jeden Fall war seine Narbe von der Magenoperation rot entzündet, und sie haben ihn wieder nach Hause geschickt."
    Die zweite Quelle der Angst waren die Bombenangriffe der westlichen Alliierten. Den ersten Bombenschock in Österreich erlitt Wiener Neustadt Mitte August 1943, Valerie Kittel erwähnte den Angriff in ihren Briefen. Der erste Angriff auf Wien ging Mitte April 1944 nieder. Insgesamt erlebten die Wiener 101 Fliegeralarme und bebten unter 52 Bombardierungen. 8769 Menschen starben.
    Der erste Angriff auf die Innere Stadt erfolgte an dem für Vally so schicksalschweren 10. September 1944. Auch Vallys Freund Otto Kudernatsch mußte dabei sein Leben lassen. "Er war ein absoluter Gegner der Nazi, schon wegen seiner ersten Frau, die Jüdin war, sie ist gestorben, und weil die Tochter Helli als Mischling allerhand Nachteile zu spüren hatte", erzählt Valerie Kittel. "Otto hat jeden Luftangriff sozusagen begrüßt, weil das für ihn ein Zeichen war, daß die Nazi-Herrschaft bald einmal zu Ende gehen würde. Franzi, seine zweite Frau, hat gesagt, daß er bei Bombenalarm immer am Fenster gestanden ist und freudig erregt gesagt hat: 'Schau, da kommen schon wieder Flieger!' Irgendwie ging in Wien das Gerücht um, man wird uns verschonen mit Bombenangriffen. Kurz und gut, die Flieger sind gekommen. Helli ist schon voraus in den Keller. Franzi ist noch bis zur Stiege des 4. Stockes gelaufen und hat immer gerufen: 'Otto, Otto, komm endlich!' Währenddessen hat eine Bombe das Haus getroffen, es ist eingestürzt, er mit hinunter, in den Lichthof, dort hat man ihn nach Tagen gefunden. Seine Frau ist gerade beim Beginn des Stiegenhauses im vierten Stock gestanden, das ganze Stiegenhaus ist hinuntergefallen, und sie ist Stunden dort oben gesessen, bis man sie befreien konnte. Im Mai 1945 hat sie ein Mädchen zur Welt gebracht; als Otto starb, haben weder sie noch er gewußt, daß sie schwanger ist."
    Nun ging es mit den Bombenangriffen erst richtig los. Vallys Notizbuch verzeichnete bald auch die Sensation, wenn einmal kein Alarm sie in der Nacht aufschreckte.
   Am 21. 2. 1945 liest man dort: "Schwerster Luftangriff auf Wien. Fast alle Bezirke, auch der 13. und 14. Zu Fuß nach Hause. Abends kein Licht. Herma bei mir im Bett geschlafen." Der 14. Bezirk, früher Hietzing, ab 1938 Penzing, Vallys Heimatbezirk, blieb ansonsten von Bomben weitgehend verschont. Die Folgen der Bombenangriffe bedeuteten ein Chaos im alltäglichen und öffentlichen Leben: Straßenbahnen konnten nicht mehr fahren, Strom fiel aus, die Wasserleitungen waren kaputt. Man mußte weite Strecken zu Fuß gehen, Wasser in Kübeln von noch vorhandenen Brunnen holen, und die Hauptsorge bestand bald nur mehr darin, einen wirklich sicheren Bunker zu finden. Am 12. März bekamen nicht nur die Oper und das Volkstheater, sondern auch Vallys Büro in der Wipplingerstraße einen schweren Treffer ab. Die nächsten Tage standen für Vally im Zeichen von "Aufräumungsarbeiten im Büro".
   Die dritte Angst schließlich galt den Russen, die aus dem Osten unaufhaltsam vordrangen. Die Volksdeutschen, die zum Teil erst unter den Nazi in die östlichen Länder umgesiedelt worden waren, flohen nach Österreich (natürlich auch ins Altreich), die Wiener flohen nach dem Westen. Valerie Kittel und ihre Familie blieben in Wien. Auch die Uhlirs blieben. Hilde Uhlir schildert: "In den letzten Kriegstagen hab ich meinen Mann nicht hinausgelassen, weil ich immer Angst gehabt hab, sie holen ihn doch noch einmal. Und eines Tages, mittags, ich hab grad Geschirr gewaschen, kommt meine Nachbarin: ' Wir haben den Volkssturm hergekriegt! Sie sollen die Siedlung verteidigen! So ein Blödsinn. Wenn die unsere Siedlung verteidigen, werden wir alle erschossen.' Meine Nachbarin sagte, sie und mehrere andere Frauen hätten vor, zu den Leuten zu gehen. Ich bin mit. An der Ecke, wo der Friedhof beginnt, da war der Volkssturm. Lauter ältere Männer mit Handgranaten. Wir waren ungefähr 40 Frauen aus der Siedlung. Wir haben ihnen solange zugeredet, bis sie die Munition liegen lassen haben und verschwunden sind nach Hause.

Über die letzten Kriegstage liest man in Vallys Notizbuch:
4. 4.: Letzter Tag im Büro.
5. 4.: Ganzen Tag Keller eingerichtet. Liegestühle geholt, Herr K. elektrischen Ofen installiert.
6. 4.: Ganzen Tag zuhause bei Eltern und im Keller; Radio, Stehlampe und Kocher installiert, Karten gespielt, 2 Briefe geschrieben und durch Soldaten expediert. Fabriken geplündert. Nicht beteiligt.
7. 4.: Vormittag bei Mutter, Sprengung bei Eisenbahnbrücken, Eintreffen der Panzerspitzen ½ 9 Uhr abends. Alle im Keller geschlafen.
8. 4.: Russen auf der Linzerstraße.
16. 4.: Fini Benesch bei mir, Wahl in den Arbeiterrat.
Fini Benesch (Seboth), die Bürokollegin, holte Vally Kittel sofort nach dem Kriegsende in Wien in ihre Dienststelle in der Krankenkasse.
Hilde Uhlir: "1945, wie der Krieg aus war, ist mein Mann zu Fuß durch die Stadt gegangen, hat sich von den leitenden Beamten den Schlüssel für die Krankenkasse geholt und hat überall in Wien frühere Mitarbeiter zusammengetrommelt. Eine davon war auch die Frau Kittel. "
Am 17. April 1945 notierte Valerie:
"Erster Tag im Büro. Ernennung zum Abteilungsleiter. "


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