Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE ZWISCHEN KRIEG UND FRIEDEN

Wien, 17. Juni 1945



Mein liebes Tonilein! per Adresse Anny Kobetitsch, Steyr.

Hoffentlich erreicht Dich dieser Brief. Ich verstehe auch gar nicht, warum ich von Dir direkt bisher noch kein Schreiben erhalten habe. Ist es ganz unmöglich, einen Brief über die Enns herüber zur Tante zu vermitteln, damit sie ihn an mich weiterleitet? Es ist ja ganz schrecklich für mich, daß ich mich mit Dir gar nicht in Verbindung setzen kann.

Der ganze Friede und alles, was drum und dran ist, freut mich gar nicht, solange Du nicht bei mir zu Hause bist. Hältst Du es noch immer für besser, vorläufig abzuwarten, bevor Du die Heimreise antrittst? Ist Dir die Zeit nicht lang? Triffst Du Dich noch immer mit der Tante an der Enns, und sprecht ihr jeden Tag miteinander? Was ist denn mit der Brücke? Kann man denn noch immer nicht hinüber?

Ach, ich habe ja so viele Fragen an Dich, aber ich will es nicht wagen, solange ich nicht weiß, daß dieser Brief auch bestimmt in Deine Hände kommt. Ich habe im Büro sehr viel zu tun, die viele Arbeit reißt gar nicht ab, es wird jeden Tag 5 und 6 Uhr, bevor ich aus dem Büro gehe, obwohl wir um 2 Uhr schon Schluß hätten.

Unsere Wohnung habe ich schon wieder ganz schön instand gesetzt und aufgeräumt, die Bücher und Wäsche und Kleider zum größten Teil schon wieder eingeräumt, und es könnte langsam das normale Leben beginnen, wenn Du nur schon hier wärst. Bei uns ist der Garten so schön, und auch die Wohnung ist jetzt wieder nett und gemütlich, kein Luftschutzgepäck steht mehr herum, am Abend habe ich die Fenster offen, wenn Licht brennt, und es ist alles so ruhig und friedlich, daß man es gar nicht glauben kann. Ich warte eigentlich  t ä g l i c h  auf Dich.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen