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Vergessen. Valerie Kittel hat
viel vergessen. Sie hat es selbst gefördert. "Wie soll ich sagen," meint
sie, auf Angst vor Bomben und Verfolgung angesprochen, "das vergißt man
alles. M u ß man ja vergessen. Man kann ja nicht alles in sich
aufbewahren, das geht ja nicht." Vergessen hat sie auch
das meiste, was ihre Kontakte mit Nazis und deren Organisationen betrifft.
Warum sie zum Beispiel im September 1941 (siehe Brief vom 23. 9. 41) mit der
Nationalsozialistischen Volksfront (NSV) zu tun hatte, weiß sie nicht
mehr. Möglicherweise ist sie verwarnt worden, eher aber, vermutet sie,
habe es sich um eine Aufforderung gehandelt, bei der Vorbereitung der
Winterhilfsaktion mitzumachen:"Da habe ich auch einmal sammeln gehen
müssen." Ihre Strategie des Über- oder besser
Untertauchens bestand darin, daß sie sich gegen die Außenwelt
abkapselte. "Ich habe diese nationalsozialistischen Zeitungen
grundsätzlich nicht gelesen oder nur, wenn sie mir grad in die Hand
gekommen sind, und habe versucht, die wenige Freizeit auf andere Weise als mit
politischer Arbeit zu verbringen. Lektüre hatte ich ja noch von
früher her." Den Kontakt mit Nationalsozialisten reduzierte sie auf das
unumgängliche Ausmaß. An einen gewissen Willi, einen Bekannten vom
Deutschen Turnverein, dessen Geschwister sich zu "Obernazis" entwickelt hatten,
wandte sich Vally 1939 oder 1940 wegen Robert Uhlir um Rat. "Aber helfen hat
mir der natürlich auch nicht können. Willi war sehr anständig,
er hat sich nie abfällig über Juden geäußert. "Auch in
jenem Teil der Schwiegerfamilie, die im Sudetenland zu Hause war, gab es Nazis.
Und bei Familientreffen politische Diskussionen.
Insgesamt läßt sich Valerie Kittel zu keiner
pauschalen Verurteilung von Nationalsozialisten hinreißen, ebensowenig
ihre Bekannten. Sie alle unterscheiden "anständige Nazis",
"Parteibuch-Nazis" (jene, die sich aus Existenzgründen oder wegen
Karrierewünschen das Hakenkreuzemblem ansteckten) und "fanatische Nazis".
Ein Parteiabzeichen bedeutete noch keineswegs die Billigung oder womöglich
gar Mitwirkung an Greueln, wie sie etwa Grete Holzfeind aus Polen geschildert
hat. Franz Senghofer fällt eine Geschichte zu diesem
Thema ein: Ein gewisser Dr. F., ein jüdischer Genosse aus Meidling, hatte
in der Arbeitslosenzeit vielen geholfen. "Eines Nachts, wie's schon kritisch
war, klopft's an der Tür. Drei SS-Männer stehen draußen:
'Doktor, sofort das Allernotwendigste in den Koffer, wir bringen Sie an die
Grenze!' " Sogar bei der SS habe es "Menschen" gegeben,
solche, die in ihrem Innersten nie wirklich Nazi gewesen seien, meint
Senghofer. "Umgekehrt hat mein eigener Neffe zu mir gesagt, 'Onkel, wenn'st das
noch einmal sagst, muß ich dich anzeigen!' " Der
Nationalsozialismus und seine Anhängerschaft hätten ein kompliziertes
vielschichtiges Phänomen gebildet, fährt Senghofer fort, es sei heute
nicht leicht, es richtig und vor allem gerecht und unmißverständlich
darzustellen. So wie fast jeder Nazi "seinen" Juden kannte, der "anders" war,
so zieht fast jeder Nazi-Gegner "seinen" hohen Nazi-Funktionär aus der
Erinnerung, der ihm auf Grund von Verwandtschaft, gemeinsamen Erfahrungen in
Gefängnissen des Austrofaschismus oder indirekter Bekanntschaft einmal -
oder mehrere Male - zu Hilfe geeilt sei. Auch
überzeugte Nazi-Gegner berichten von Kompromissen, zu denen sie sich aus
ihrer Sicht gezwungen gesehen hätten. Uhlirs zum Beispiel waren immun
gegen das Nazi-Gift, aber einmal hat auch Hilde Uhlir "Heil-Hitler" gesagt, als
sie eine neue, größere Wohnung brauchte. Alois Piperger
erzählt: "Ich bin zweimal ernsthaft genötigt worden, bei einer
NS-Organisation beizutreten, und hab immer mit Hinweis auf meine politische
Vergangenheit gesagt: 'Ihr wißt's doch, wer ich bin, was hat das für
einen Sinn!' Worauf mir einer gesagt hat: ' Na hören S', mein Vater war
Sozialdemokrat und ist heut auch Parteimitglied'. Und ein zweites Mal sind wir,
vielleicht ein Dutzend Funktionäre aus
dem Bereich der Sektion, vom Ortsgruppenleiter vorgeladen worden, und der hat,
wie wir befürchtet haben, eine druckausübende Rede gehalten, die aber
schließlich harmlos gemündet hat in dem versteckten Zwang, reichlich
für die Winterhilfe zu spenden. Wir waren danach sehr erleichtert."
Ja, es habe gewisse Dinge gegeben, wo es keinen Ausweg
gegeben habe, formuliert er. "Da gab es keine Möglichkeit des Entrinnens."
Auch Vally Kittel mußte trotz bitterster
Gegnerschaft mit der Umgebung, mit der sie vor allem im Büro
tagtäglich konfrontiert war, zu einem minimalen Arrangement kommen. Sie
leistete allerdings auch hier eine Art passiven Widerstand, wo sie nur konnte.
Wenn sie vom Büro aus zur Teilnahme an Reden oder Versammlungen
aufgefordert wurde, "hab ich mir immer was zum Lesen mitgenommen und hab in der
Kolonne, beim langsamen Gehen und Stehen darin geblättert, damit die Zeit
nicht verloren ist." Nicht entziehen konnte sie sich dem
Lautsprecher im Büro, durch den die Sondermeldungen über
Kriegsverlauf und ähnliches bis an ihren Schreibtisch getragen wurden.
"Der Lautsprecher für unsere Abteilung war nämlich in unserem Zimmer
angebracht. Da wurde aufgepaßt, wer sie anhören kommt und wer sich
zurückhält. Ich hab das Glück gehabt, grad vis à vis zu
sitzen, sodaß ich diesbezüglich meine Haltung nicht bekanntgeben
mußte. Manchmal waren es solche Lappalien, die einem zugute gekommen
sind. Wenn einer ständig ferngeblieben wäre, hätte er wieder
einen schlechten Punkt gehabt." Die Entscheidung
über die Folgen solcher "Schlechtpunkte" sei in der Direktion gelegen.
"Man konnte zum Beispiel als Flak-Helferin in ein Kriegsgebiet geschickt
werden, solcher Dinge mußte man gewärtig sein, wenn man schlecht
aufgefallen ist." Natürlich waren etliche der etwa 15 Kollegen und
Kolleginnen, mit denen sie in einem Büro zusammensaß, vor allem in
den ersten Jahren mit dem Nazi-Regime durchaus einverstanden. "Ich hab immer
still zugehört und dadurch die wandelnde Stimmung unter den Menschen
feststellen können. Je länger der Krieg gedauert hat, und je
schlechter die Zeiten wurden, desto geringer wurde die Begeisterung und desto
mehr haben sie angefangen, zu klagen und zu jammern."
Eine Gleichgesinnte erkannte Vally Kittel bald: Josefine
(Fini) Benesch, später verehelichte Seboth. "Da sie ein sehr sympathischer
Mensch war, habe ich mit ihr ein bißchen Kontakt aufgenommen,
natürlich keinen organisatorischen."
Ab zirka
1943 zeichnete sich der politische "Frontenwechsel" beim Suchen von
Verbündeten ab, der nach 1945 zu gemeinsamer politischer Arbeit von
"Schwarzen" und "Roten", den Feinden der Vorkriegszeit, führen sollte.
Alois Piperger: "Ich bin vereinzelt mit Funktionären der
Christlichsozialen in unserer Siedlung in Berührung gekommen, bei der
Straßenbahnhaltestelle oder bei Spaziergängen. Da ist man im
Gegensatz zu früher stehengeblieben und hat gesagt: 'Na, was sagen Sie
dazu oder dazu?' Aber das war nicht organisiert, eher ein gegenseitiges
Trösten." Auch Valerie Kittel vertrug sich mit dem
Gruppenleiter, der ihrem gekündigten halbjüdischen Chef nachfolgte,
sehr gut, und es spielte keine Rolle mehr, daß er ein ehemaliger
Christlichsozialer war.
"Es gibt ja jetzt schon viel
konkretere Dinge zu besprechen ", schreibt Vally Kittel am 23. 7 1943 nach
einem '"Treff" in der sozialistischen "Gesinnungsgemeinschaft". Die deutsche
Niederlage bei Stalingrad Anfang des Jahres hatte neue Hoffnungen auf ein
baldiges Kriegsende geweckt. Ideen für ein Neuerstehen von Partei und
Gewerkschaft begannen sich, vorerst noch im Untergrund, zu regen.
Einige Stichworte zur
militärischen
Entwicklung, die Vallys Freunde mit Hoffnung betrachteten:
Am 2. Februar 1943 Kapitulation von Stalingrad.
Im Mai Kapitulation in Afrika. Im
Sommer 1943 begann die letzte deutsche Offensive in Rußland am
Kursk-Bogen. Die Russen traten zur Gegenoffensive an. Anfang August fiel Orel.
Über den Rückzug der deutschen Armee sprechen Toni Kittels Briefe
für sich. In den knappen Bemerkungen zum Kriegsverlauf spiegelt sich auch
bei Toni Kittel die damalige offizielle Diktion: "Erschüttert vom
heldenmütigen Kampf", "schwerer Schlag in Afrika", und immer wieder "der
Russe", "der Russe" - diese Verwandlung von Tausenden Menschen in die
klischeehafte Einzahl, die grammatikalische Version des Vorurteils.
Keine Frage, daß Tonis und noch mehr Valeries
Grundhaltung zum Heer eindeutig negativ war - und doch ließ sich auch
Vally ab und zu von der gedanklichen Automatik des Systems überlisten,
wenn sie Toni zum Beispiel zum Aufstieg in der militärischen Hierarchie
animierte. Ich habe Franz Senghofer gefragt, ob es nicht
schwierig war, für ein System in den Krieg zu gehen, das man ablehnte. Er
reagierte mit leicht erhobener Stimme: "Ich bin nicht f ü r das
System in den Krieg gegangen. Ich habe nichts gemacht, was dem System geholfen
hat, im Gegenteil. Als die Amerikaner im Anmarschieren waren, haben ich und
einige andere ein ganzes hohes Faß
Fliegerbenzin
organisiert, damit sich die Batterie ansäuft. Die Amerikaner haben die
Partie betrunken und schlafend vorgefunden." Senghofer desertierte daraufhin
und war ein Jahr "in einem Hungerlager in Frankreich in amerikanischer
Gefangenschaft." Das Kriegsende verbrachte er in
Bad Mondorf, in
Luxemburg. "Dort in dem großen Kurhotel mußten wir eine Woche oder
zwei alles sauber machen, die Amerikaner haben um das ganze Hotel einen
Stacheldraht gezogen, ihn elektrisch geladen, worauf unter den Mitgefangenen
die Panik ausgebrochen ist." Senghofer hatte jedoch keine Angst, da für
den Dienst in Mondorf speziell Nichtnazis ausgesucht worden waren. "Nach etwa
zwei Wochen fährt ein amerikanischer Sanitätswagen vor, Ami springen
heraus mit Maschinenpistolen im Anschlag, und dann steigt einer aus dem Auto,
den ich sofort erkenne:
Seyss-Inquart. Da
sind also alle Kriegsverbrecher vor Nürnberg
dorthingekommen."
Nach dieser biographischen
Abschweifung kehrte Senghofer wieder zum Thema meiner Frage zurück: "Eines
sag ich Ihnen ganz offen, wie ich einmal auf der Krim in der Situation war,
daß die Russen an einer bestimmten Stelle angegriffen haben, dort, wo wir
mit unserem Scheinwerfer gestanden sind, da war mir klar, daß ich
m i c h verteidige, bis zum letzten. Wenn's ums eigene Leben
geht, denkt man an nichts mehr anderes." Kriegsgegner wie
Piperger und Zvacek betätigten sich in der Rüstungsindustrie, die das
Militär mit Waffen versorgte. Robert Uhlir hingegen, der nach seiner
Freilassung wöchentlich bei der Bezirkspolizei zum Rapport erscheinen
mußte, durfte gar nichts für Großdeutschland tun. Hilde Uhlir:
"Er hat einen Wehrunwürdigkeitspaß bekommen." Andere Regimegegner
wieder mußten als Schlachtvieh in die berüchtigten Strafbataillons
an die vorderste Front. Große Bemühungen
unternahm Grete Holzfeind, um ihren Mann und seinen Bruder aus dem Krieg
herauszuhalten. Sie hatte, wie sie betont, auf rechtmäßige Weise
1938 von einem jüdischen Emigranten ein Textillager aufgekauft. "Das hab
ich alles verpulvert für die zwei Köpf'." In ihrem Modesalon wusch in
einer Clique aus Ärzten, Offizieren und Musikern eine Hand die andere. Das
verlief ungefähr so: Grete nähte umsonst für eine Sängerin,
diese verschaffte einem Arzt Opernkarten, der wiederum bereit war, als
Gegenleistung ein Gefälligkeitsattest für Ernst auszustellen. Grete
Holzfeind, eine deklarierte Gegnerin der Nazi, nützte, wie sie es
formuliert, die Korruptheit dieser Leute aus. Auf meinen
Einwand, daß diese Menschen doch wirklich gegen das System eingestellt
hätten sein können, bemerkt sie: "Das haben sie zumindest nie zum
Ausdruck gebracht."
Widerstand im Sinne
von Handlungen zum Sturz des Systems war im Kreis um Valerie Kittel selten,
aber es kommen in den Briefen auch einige Menschen vor, die nicht nur spontane,
individuelle Resistenz leisteten, sondern organisierte Opposition im Sinn
hatten. Ein Name ist Robert Uhlir, ein anderer der des ehemaligen
Bezirksvorstehers von Ottakring und Nationalratsabgeordneten
Albert Sever.
Einem SS-Bericht aus dem Jahr 1939 ist der Verdacht zu entnehmen, daß er
im Gasthaus Fuchsenloch in Sandleiten an Zusammenkünften von Kommunisten
teilgenommen habe. Die Nazi beurteilten diese Gruppe dann aber als "harmlose
rote Spießer". Ab Herbst 1942 versuchte
Dr. Alfred Migsch
unter seinen Genossen zu sondieren, wer sich für den Aufbau einer
Widerstandsorganisation eigne. Migsch nahm auch am Begräbnis Minnie
Schüllers teil. Ab Anfang 1943 war er aktiv für die
"Anti-Hitler-Bewegung", und 1944 führte ihn sein Engagement ins KZ
Mauthausen. Hilde Uhlir erinnert sich in diesem
Zusammenhang: "Migsch, der später Energieminister geworden ist, ist einmal
zu uns gekommen. Wir sind draußen im Vorgarten gesessen. Er hat gesagt: '
Wir treffen uns morgen draußen im Rosental im Schrebergarten von dem und
dem.' Mein Mann sagt: ' Wer? Nein, da geh ich nicht hin!' Er hat eine gute Nase
gehabt. Denn dort ist der Migsch verhaftet worden. Der Gartenbesitzer war ein
Konfident.
Minnie Schüllers Selbstmord wirft ein
Licht auf die beklemmende Situation, in der sich auch jüdische Mischlinge
befanden. Am 24 Juli 1942 schrieb sie aus Berlin an Vally in einem relativ
optimistischen Brief über die geplante Übersiedlung nach Wien: "So
liegen nun also die Dinge, und ich bin glücklich, daß ich diesem
hin- und herschwankenden, entschlußlosen Zustand ein Ende bereitet habe.
Ob der Entschluß gut oder schlecht war, wird sich zeigen, aber viel ist
an meinem verpfuschten und verdorbenen Leben ja nicht mehr zu verderben. Es ist
also im Grunde genommen jede Entscheidung ziemlich egal."
Verpfuscht und verdorben sei ihr Leben, meinte sie, und
ein halbes Jahr später brachte sie sich um, nicht n u r wegen
der rassistischen Verfolgung, aber auch deswegen. Ihre Stelle in der
Krankenkasse, wo sie Vallys Kollegin gewesen war, hatte sie schon lange
verloren. Über die Wohnungs- und familiären Probleme informieren
Valeries Briefe. Die drückende allgemeine Stimmung für die Opfer des
Antisemitismus müssen sich die Leser und Leserinnen selbst vorstellen.
Am 30 Juni 1943 wurde das Reich, also Deutschland,
Österreich und das Protektorat Böhmen und Mähren, für
"judenrein"
erklärt: 65 459 österreichische Juden starben im Zeichen dieses
Zieles. Vallys Freunde waren emigriert, untergetaucht oder tot. Gegen
Mischlinge unternahm man bis Kriegsende nichts mehr, außer, daß man
sie ihrer Arbeitsstelle beraubte - wie Vallys Chefin der Krankenkasse - oder
ihnen den Eintritt in Hauptschulen, Mittelschulen, höhere Schulen und
Fachschulen verwehrte. Die halbjüdische Tochter von Cousin Otto, Helli,
konnte deshalb nur im Fotogeschäft des Vaters, quasi als Lehrling,
unterkommen. Daß aber der letzte Schritt der
Judenvernichtung zweifellos auch noch gefolgt wäre, laßt ein
Schreiben des Reichsinnenministeriums an die Gauleitung Wien vom 1. Februar
1945 vermuten. Darin wird in bezug auf die Mischlinge der "Rosenbergplan zur
Ausmerzung des jüdischen Blutes aus dem deutschen Volk" genannt.
Wahrscheinlich hat nur der sinkende militärische Glückstern der Nazi
den jüdischen "Mischlingen" das
Leben gerettet. |