Wenn erst Friede ist  © 2005

RUSSLAND II - KOMMENTAR

Im Graben


























Vergessen. Valerie Kittel hat viel vergessen. Sie hat es selbst gefördert. "Wie soll ich sagen," meint sie, auf Angst vor Bomben und Verfolgung angesprochen, "das vergißt man alles. M u ß man ja vergessen. Man kann ja nicht alles in sich aufbewahren, das geht ja nicht."
   Vergessen hat sie auch das meiste, was ihre Kontakte mit Nazis und deren Organisationen betrifft. Warum sie zum Beispiel im September 1941 (siehe Brief vom 23. 9. 41) mit der Nationalsozialistischen Volksfront (NSV) zu tun hatte, weiß sie nicht mehr. Möglicherweise ist sie verwarnt worden, eher aber, vermutet sie, habe es sich um eine Aufforderung gehandelt, bei der Vorbereitung der Winterhilfsaktion mitzumachen:"Da habe ich auch einmal sammeln gehen müssen."
   Ihre Strategie des Über- oder besser Untertauchens bestand darin, daß sie sich gegen die Außenwelt abkapselte. "Ich habe diese nationalsozialistischen Zeitungen grundsätzlich nicht gelesen oder nur, wenn sie mir grad in die Hand gekommen sind, und habe versucht, die wenige Freizeit auf andere Weise als mit politischer Arbeit zu verbringen. Lektüre hatte ich ja noch von früher her." Den Kontakt mit Nationalsozialisten reduzierte sie auf das unumgängliche Ausmaß. An einen gewissen Willi, einen Bekannten vom Deutschen Turnverein, dessen Geschwister sich zu "Obernazis" entwickelt hatten, wandte sich Vally 1939 oder 1940 wegen Robert Uhlir um Rat. "Aber helfen hat mir der natürlich auch nicht können. Willi war sehr anständig, er hat sich nie abfällig über Juden geäußert. "Auch in jenem Teil der Schwiegerfamilie, die im Sudetenland zu Hause war, gab es Nazis. Und bei Familientreffen politische Diskussionen.
   Insgesamt läßt sich Valerie Kittel zu keiner pauschalen Verurteilung von Nationalsozialisten hinreißen, ebensowenig ihre Bekannten. Sie alle unterscheiden "anständige Nazis", "Parteibuch-Nazis" (jene, die sich aus Existenzgründen oder wegen Karrierewünschen das Hakenkreuzemblem ansteckten) und "fanatische Nazis". Ein Parteiabzeichen bedeutete noch keineswegs die Billigung oder womöglich gar Mitwirkung an Greueln, wie sie etwa Grete Holzfeind aus Polen geschildert hat.
   Franz Senghofer fällt eine Geschichte zu diesem Thema ein: Ein gewisser Dr. F., ein jüdischer Genosse aus Meidling, hatte in der Arbeitslosenzeit vielen geholfen. "Eines Nachts, wie's schon kritisch war, klopft's an der Tür. Drei SS-Männer stehen draußen: 'Doktor, sofort das Allernotwendigste in den Koffer, wir bringen Sie an die Grenze!' "
   Sogar bei der SS habe es "Menschen" gegeben, solche, die in ihrem Innersten nie wirklich Nazi gewesen seien, meint Senghofer. "Umgekehrt hat mein eigener Neffe zu mir gesagt, 'Onkel, wenn'st das noch einmal sagst, muß ich dich anzeigen!' "
   Der Nationalsozialismus und seine Anhängerschaft hätten ein kompliziertes vielschichtiges Phänomen gebildet, fährt Senghofer fort, es sei heute nicht leicht, es richtig und vor allem gerecht und unmißverständlich darzustellen. So wie fast jeder Nazi "seinen" Juden kannte, der "anders" war, so zieht fast jeder Nazi-Gegner "seinen" hohen Nazi-Funktionär aus der Erinnerung, der ihm auf Grund von Verwandtschaft, gemeinsamen Erfahrungen in Gefängnissen des Austrofaschismus oder indirekter Bekanntschaft einmal - oder mehrere Male - zu Hilfe geeilt sei.
   Auch überzeugte Nazi-Gegner berichten von Kompromissen, zu denen sie sich aus ihrer Sicht gezwungen gesehen hätten. Uhlirs zum Beispiel waren immun gegen das Nazi-Gift, aber einmal hat auch Hilde Uhlir "Heil-Hitler" gesagt, als sie eine neue, größere Wohnung brauchte. Alois Piperger erzählt: "Ich bin zweimal ernsthaft genötigt worden, bei einer NS-Organisation beizutreten, und hab immer mit Hinweis auf meine politische Vergangenheit gesagt: 'Ihr wißt's doch, wer ich bin, was hat das für einen Sinn!' Worauf mir einer gesagt hat: ' Na hören S', mein Vater war Sozialdemokrat und ist heut auch Parteimitglied'. Und ein zweites Mal sind wir, vielleicht ein Dutzend Funktionäre aus dem Bereich der Sektion, vom Ortsgruppenleiter vorgeladen worden, und der hat, wie wir befürchtet haben, eine druckausübende Rede gehalten, die aber schließlich harmlos gemündet hat in dem versteckten Zwang, reichlich für die Winterhilfe zu spenden. Wir waren danach sehr erleichtert."
   Ja, es habe gewisse Dinge gegeben, wo es keinen Ausweg gegeben habe, formuliert er. "Da gab es keine Möglichkeit des Entrinnens."
   Auch Vally Kittel mußte trotz bitterster Gegnerschaft mit der Umgebung, mit der sie vor allem im Büro tagtäglich konfrontiert war, zu einem minimalen Arrangement kommen. Sie leistete allerdings auch hier eine Art passiven Widerstand, wo sie nur konnte. Wenn sie vom Büro aus zur Teilnahme an Reden oder Versammlungen aufgefordert wurde, "hab ich mir immer was zum Lesen mitgenommen und hab in der Kolonne, beim langsamen Gehen und Stehen darin geblättert, damit die Zeit nicht verloren ist."
   Nicht entziehen konnte sie sich dem Lautsprecher im Büro, durch den die Sondermeldungen über Kriegsverlauf und ähnliches bis an ihren Schreibtisch getragen wurden. "Der Lautsprecher für unsere Abteilung war nämlich in unserem Zimmer angebracht. Da wurde aufgepaßt, wer sie anhören kommt und wer sich zurückhält. Ich hab das Glück gehabt, grad vis à vis zu sitzen, sodaß ich diesbezüglich meine Haltung nicht bekanntgeben mußte. Manchmal waren es solche Lappalien, die einem zugute gekommen sind. Wenn einer ständig ferngeblieben wäre, hätte er wieder einen schlechten Punkt gehabt."
   Die Entscheidung über die Folgen solcher "Schlechtpunkte" sei in der Direktion gelegen. "Man konnte zum Beispiel als Flak-Helferin in ein Kriegsgebiet geschickt werden, solcher Dinge mußte man gewärtig sein, wenn man schlecht aufgefallen ist." Natürlich waren etliche der etwa 15 Kollegen und Kolleginnen, mit denen sie in einem Büro zusammensaß, vor allem in den ersten Jahren mit dem Nazi-Regime durchaus einverstanden. "Ich hab immer still zugehört und dadurch die wandelnde Stimmung unter den Menschen feststellen können. Je länger der Krieg gedauert hat, und je schlechter die Zeiten wurden, desto geringer wurde die Begeisterung und desto mehr haben sie angefangen, zu klagen und zu jammern."
   Eine Gleichgesinnte erkannte Vally Kittel bald: Josefine (Fini) Benesch, später verehelichte Seboth. "Da sie ein sehr sympathischer Mensch war, habe ich mit ihr ein bißchen Kontakt aufgenommen, natürlich keinen organisatorischen."

   Ab zirka 1943 zeichnete sich der politische "Frontenwechsel" beim Suchen von Verbündeten ab, der nach 1945 zu gemeinsamer politischer Arbeit von "Schwarzen" und "Roten", den Feinden der Vorkriegszeit, führen sollte. Alois Piperger: "Ich bin vereinzelt mit Funktionären der Christlichsozialen in unserer Siedlung in Berührung gekommen, bei der Straßenbahnhaltestelle oder bei Spaziergängen. Da ist man im Gegensatz zu früher stehengeblieben und hat gesagt: 'Na, was sagen Sie dazu oder dazu?' Aber das war nicht organisiert, eher ein gegenseitiges Trösten."
   Auch Valerie Kittel vertrug sich mit dem Gruppenleiter, der ihrem gekündigten halbjüdischen Chef nachfolgte, sehr gut, und es spielte keine Rolle mehr, daß er ein ehemaliger Christlichsozialer war.

   "Es gibt ja jetzt schon viel konkretere Dinge zu besprechen ", schreibt Vally Kittel am 23. 7 1943 nach einem '"Treff" in der sozialistischen "Gesinnungsgemeinschaft". Die deutsche Niederlage bei Stalingrad Anfang des Jahres hatte neue Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende geweckt. Ideen für ein Neuerstehen von Partei und Gewerkschaft begannen sich, vorerst noch im Untergrund, zu regen.
   Einige Stichworte zur militärischen Entwicklung, die Vallys Freunde mit Hoffnung betrachteten:
   Am 2. Februar 1943 Kapitulation von Stalingrad.
   Im Mai Kapitulation in Afrika.
   Im Sommer 1943 begann die letzte deutsche Offensive in Rußland am Kursk-Bogen. Die Russen traten zur Gegenoffensive an. Anfang August fiel Orel.
Über den Rückzug der deutschen Armee sprechen Toni Kittels Briefe für sich. In den knappen Bemerkungen zum Kriegsverlauf spiegelt sich auch bei Toni Kittel die damalige offizielle Diktion: "Erschüttert vom heldenmütigen Kampf", "schwerer Schlag in Afrika", und immer wieder "der Russe", "der Russe" - diese Verwandlung von Tausenden Menschen in die klischeehafte Einzahl, die grammatikalische Version des Vorurteils.
   Keine Frage, daß Tonis und noch mehr Valeries Grundhaltung zum Heer eindeutig negativ war - und doch ließ sich auch Vally ab und zu von der gedanklichen Automatik des Systems überlisten, wenn sie Toni zum Beispiel zum Aufstieg in der militärischen Hierarchie animierte.
   Ich habe Franz Senghofer gefragt, ob es nicht schwierig war, für ein System in den Krieg zu gehen, das man ablehnte. Er reagierte mit leicht erhobener Stimme: "Ich bin nicht f ü r das System in den Krieg gegangen. Ich habe nichts gemacht, was dem System geholfen hat, im Gegenteil. Als die Amerikaner im Anmarschieren waren, haben ich und einige andere ein ganzes hohes Faß Fliegerbenzin organisiert, damit sich die Batterie ansäuft. Die Amerikaner haben die Partie betrunken und schlafend vorgefunden." Senghofer desertierte daraufhin und war ein Jahr "in einem Hungerlager in Frankreich in amerikanischer Gefangenschaft." Das Kriegsende verbrachte er in Bad Mondorf, in Luxemburg. "Dort in dem großen Kurhotel mußten wir eine Woche oder zwei alles sauber machen, die Amerikaner haben um das ganze Hotel einen Stacheldraht gezogen, ihn elektrisch geladen, worauf unter den Mitgefangenen die Panik ausgebrochen ist." Senghofer hatte jedoch keine Angst, da für den Dienst in Mondorf speziell Nichtnazis ausgesucht worden waren. "Nach etwa zwei Wochen fährt ein amerikanischer Sanitätswagen vor, Ami springen heraus mit Maschinenpistolen im Anschlag, und dann steigt einer aus dem Auto, den ich sofort erkenne: Seyss-Inquart. Da sind also alle Kriegsverbrecher vor Nürnberg dorthingekommen."

   Nach dieser biographischen Abschweifung kehrte Senghofer wieder zum Thema meiner Frage zurück: "Eines sag ich Ihnen ganz offen, wie ich einmal auf der Krim in der Situation war, daß die Russen an einer bestimmten Stelle angegriffen haben, dort, wo wir mit unserem Scheinwerfer gestanden sind, da war mir klar, daß ich m i c h verteidige, bis zum letzten. Wenn's ums eigene Leben geht, denkt man an nichts mehr anderes."
   Kriegsgegner wie Piperger und Zvacek betätigten sich in der Rüstungsindustrie, die das Militär mit Waffen versorgte. Robert Uhlir hingegen, der nach seiner Freilassung wöchentlich bei der Bezirkspolizei zum Rapport erscheinen mußte, durfte gar nichts für Großdeutschland tun. Hilde Uhlir: "Er hat einen Wehrunwürdigkeitspaß bekommen." Andere Regimegegner wieder mußten als Schlachtvieh in die berüchtigten Strafbataillons an die vorderste Front.
   Große Bemühungen unternahm Grete Holzfeind, um ihren Mann und seinen Bruder aus dem Krieg herauszuhalten. Sie hatte, wie sie betont, auf rechtmäßige Weise 1938 von einem jüdischen Emigranten ein Textillager aufgekauft. "Das hab ich alles verpulvert für die zwei Köpf'." In ihrem Modesalon wusch in einer Clique aus Ärzten, Offizieren und Musikern eine Hand die andere. Das verlief ungefähr so: Grete nähte umsonst für eine Sängerin, diese verschaffte einem Arzt Opernkarten, der wiederum bereit war, als Gegenleistung ein Gefälligkeitsattest für Ernst auszustellen. Grete Holzfeind, eine deklarierte Gegnerin der Nazi, nützte, wie sie es formuliert, die Korruptheit dieser Leute aus.
   Auf meinen Einwand, daß diese Menschen doch wirklich gegen das System eingestellt hätten sein können, bemerkt sie: "Das haben sie zumindest nie zum Ausdruck gebracht."

   Widerstand im Sinne von Handlungen zum Sturz des Systems war im Kreis um Valerie Kittel selten, aber es kommen in den Briefen auch einige Menschen vor, die nicht nur spontane, individuelle Resistenz leisteten, sondern organisierte Opposition im Sinn hatten. Ein Name ist Robert Uhlir, ein anderer der des ehemaligen Bezirksvorstehers von Ottakring und Nationalratsabgeordneten Albert Sever. Einem SS-Bericht aus dem Jahr 1939 ist der Verdacht zu entnehmen, daß er im Gasthaus Fuchsenloch in Sandleiten an Zusammenkünften von Kommunisten teilgenommen habe. Die Nazi beurteilten diese Gruppe dann aber als "harmlose rote Spießer".
   Ab Herbst 1942 versuchte Dr. Alfred Migsch unter seinen Genossen zu sondieren, wer sich für den Aufbau einer Widerstandsorganisation eigne. Migsch nahm auch am Begräbnis Minnie Schüllers teil. Ab Anfang 1943 war er aktiv für die "Anti-Hitler-Bewegung", und 1944 führte ihn sein Engagement ins KZ Mauthausen.
   Hilde Uhlir erinnert sich in diesem Zusammenhang: "Migsch, der später Energieminister geworden ist, ist einmal zu uns gekommen. Wir sind draußen im Vorgarten gesessen. Er hat gesagt: ' Wir treffen uns morgen draußen im Rosental im Schrebergarten von dem und dem.' Mein Mann sagt: ' Wer? Nein, da geh ich nicht hin!' Er hat eine gute Nase gehabt. Denn dort ist der Migsch verhaftet worden. Der Gartenbesitzer war ein Konfident.

   Minnie Schüllers Selbstmord wirft ein Licht auf die beklemmende Situation, in der sich auch jüdische Mischlinge befanden. Am 24 Juli 1942 schrieb sie aus Berlin an Vally in einem relativ optimistischen Brief über die geplante Übersiedlung nach Wien: "So liegen nun also die Dinge, und ich bin glücklich, daß ich diesem hin- und herschwankenden, entschlußlosen Zustand ein Ende bereitet habe. Ob der Entschluß gut oder schlecht war, wird sich zeigen, aber viel ist an meinem verpfuschten und verdorbenen Leben ja nicht mehr zu verderben. Es ist also im Grunde genommen jede Entscheidung ziemlich egal."
   Verpfuscht und verdorben sei ihr Leben, meinte sie, und ein halbes Jahr später brachte sie sich um, nicht n u r wegen der rassistischen Verfolgung, aber auch deswegen. Ihre Stelle in der Krankenkasse, wo sie Vallys Kollegin gewesen war, hatte sie schon lange verloren. Über die Wohnungs- und familiären Probleme informieren Valeries Briefe. Die drückende allgemeine Stimmung für die Opfer des Antisemitismus müssen sich die Leser und Leserinnen selbst vorstellen.
   Am 30 Juni 1943 wurde das Reich, also Deutschland, Österreich und das Protektorat Böhmen und Mähren, für "judenrein" erklärt: 65 459 österreichische Juden starben im Zeichen dieses Zieles. Vallys Freunde waren emigriert, untergetaucht oder tot. Gegen Mischlinge unternahm man bis Kriegsende nichts mehr, außer, daß man sie ihrer Arbeitsstelle beraubte - wie Vallys Chefin der Krankenkasse - oder ihnen den Eintritt in Hauptschulen, Mittelschulen, höhere Schulen und Fachschulen verwehrte. Die halbjüdische Tochter von Cousin Otto, Helli, konnte deshalb nur im Fotogeschäft des Vaters, quasi als Lehrling, unterkommen.
   Daß aber der letzte Schritt der Judenvernichtung zweifellos auch noch gefolgt wäre, laßt ein Schreiben des Reichsinnenministeriums an die Gauleitung Wien vom 1. Februar 1945 vermuten. Darin wird in bezug auf die Mischlinge der "Rosenbergplan zur Ausmerzung des jüdischen Blutes aus dem deutschen Volk" genannt. Wahrscheinlich hat nur der sinkende militärische Glückstern der Nazi den jüdischen "Mischlingen" das Leben gerettet.


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