Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE RUSSLAND II

Wien, 18. Jänner 1943

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Kommentar

Viele Tage sind schon vergangen, seit Du von zu Hause fort bist, und Du wirst glauben, daß ich gar nicht an Dich denke, weil ich so wenig schreibe. Aber das ist nicht wahr, ich denke immer an Dich, immer!
Nun bin ich wieder in mein Büroleben eingespannt, und da sich allerhand Veränderungen ergeben haben in und seit meinem Urlaub, so bin ich von den Büroangelegenheiten sehr stark in Anspruch genommen.
Durch das plötzliche Ausscheiden unseres Ressortchefs am 22. Dezember, weil sich herausgestellt hat, daß er Mischling war, hat der Rangnächste plötzlich auch seine Stellung erschüttert gesehen, weil er nicht das Selbstvertrauen hatte, die Arbeit zu bewältigen, und hat freiwillig um seine Versetzung angesucht. Das war während meines Urlaubes. Unser Chef hat nun verfügt, daß anstelle der beiden Ausgeschiedenen ein anderer Kollege das Amt übernimmt, und zwar ist dieser mit mir gleichaltrig. Jedoch ist er erst seit 1939 in der Kasse und ist derzeit auch noch in einer schlechteren Vergütungsgruppe als ich. Aber er ist ein ungemein sympathischer Mensch, in vieler Hinsicht mir gleichgesinnt, und eine Zusammenarbeit mit ihm würde mir Freude machen. Dieser wurde nun als Gruppenleiter bei uns eingesetzt, und ich wurde offiziell zu seiner Stellvertreterin ernannt. Ich muß nun einen Chefsitzplatz einnehmen gegenüber meinem neuen Mitarbeiter, und es ist mir sehr recht, daß er die erste Geige spielen soll und ich die zweite, denn wir werden uns bestimmt nicht streiten, er braucht unbedingt meine Hilfe, und ich werde ihn in jeder Hinsicht unterstützen. Wenn ich denke, was das für ein grundlegender Wandel ist gegenüber der Zeit noch vor einem Monat! Als ich die zwei männlichen Säulen in unserem Zimmer für unerschütterlich hielt.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen