ZEITZEUGIN 4:
BÜROKOLLEGIN FINI BENESCH



"Ich bin in die Albertschule gegangen, da hat man gesagt. Die geht in die 'Judenschule'! Dann war ich auch mit einem Juden verlobt. Mein Sinnen und Streben war es, das mosaische Religionsbekenntnis anzunehmen. Wie der Umsturz im Jahr 1938 war, ist mein Bräutigam mit seiner Mutter von heute auf morgen weg. Ein halbes oder ein Jahr später sind Briefe aus Amerika gekommen, unter einem anderen Namen. Er wollte, daß ich nachkomme. Das Affidavit hätte ich schon gehabt, aber meine Mutter ist auf den Knien vor mir gelegen und hat mich nicht wegfahren lassen. Ein Studienkollege, der mit meinem Verlobten maturiert hatte, eben der Herr Dr. Seboth, hat mich dann 'geschnappt'. Geheiratet haben wir 1944.
   Damals hab ich schon jahrelang bei der Krankenkasse neben der Frau Kittel gearbeitet. Ich bin am 6. Februar 1939 mit 21 Jahren dort eingetreten.
   Ich war nie für die Nazi und bin auch nirgends dazugegangen. Wir haben im Betrieb auch Höhergestellte gehabt, die so gefühlt haben. Wir haben eine Sportgruppe gebildet, und da hat man ganz genau gewußt, daß die alle nicht mit dem Herzen dabei sind. Aber, daß es einen Untergrund gegeben hat, daß die Frau Kittel beim Untergrund ist, das hab ich nicht gewußt.
   Mit der Sportgruppe haben wir Tagesausflüge gemacht und gesportelt. Das einzige war, daß wir hie und da mit Rädern aufgetreten sind, wobei jeder ein Leiberl mit dem Hakenkreuz-Emblem anhatte, ja, von der Gewerkschaft, von der Deutschen Arbeitsfront DAF wird das gewesen sein. Da mußten ja alle dazugehen. Es ist wohl getuschelt worden hinter dem Rücken, oder gestänkert, wenn man zum Beispiel nicht mit 'Heil Hitler' gegrüßt hat, aber ich könnte mich nicht erinnern, daß deswegen einer weggekommen ist. Ich hab nie, 'Heil Hitler' gesagt.
Ich hab dieses Gedicht gefunden, das kann ich heute noch auswendig: Sag nicht Heil Hitler so wie Guten Morgen, gedankenlos wie es so mancher sagt. Denk an den Führer, denk an seine Sorgen, sodaß er nie nach Rast und Ruhe fragt. Sprich's wie ein Dankgebet und denk im Stillen, wie dieser Gruß in Wirklichkeit gemeint. Denk an des Führers eisenharten Willen, der uns befreit und Deutschland hat vereint.'
   Dieses Gedicht hab ich abgeschrieben, auf meinen Schreibtisch gelegt, und wenn mich jemand darauf angesprochen hat, daß ich nicht mit dem deutschen Gruß grüße, hab ich ihm das Gedicht gezeigt.
   Im Betrieb ist Herma Köpl meine intimste Freundin gewesen. Wir haben schon gegenseitig gewußt, welche Gesinnung wir haben. Sie war ein charmanter Kerl, den alle geliebt haben, Nach dem Krieg hat sie einen amerikanischen Besatzungssoldaten geheiratet. Aber unser Direktor, vom Betrieb, der war ihre große Liebe. Der hat für Kunst und schöne Gespräche etwas übrig gehabt, obwohl er schon ein illegaler Nazi gewesen ist. Er hat trotzdem menschlich gehandelt. 1945 ist er sofort hinausgeworfen worden. Nicht hingerichtet, nicht eingesperrt, aber hinausgeworfen, und sie, die Hermi hat ihm geholfen und aus Amerika Care-Pakete geschickt.
   Für mich ist das auch nicht ausschlaggebend, ob einer ein Schwarzer, ein Roter oder ein Nazi ist - wenn er ein Mensch ist. Das sag ich Ihnen ehrlich!
   Hab ich Ihnen das eine Erlebnis schon erzählt? Als die Krankenkasse von einer Bombe getroffen worden ist, sind wir, die Hermi und ich, als erste hinaufgegangen aus dem Keller. Und die Hitler-Bilder, diese Glasbilder, die sind alle noch an der Wand gehängt, obwohl sonst alles zerstaubt und kaputt war. Wir haben diese Hitler-Bilder von den Wänden genommen und - obwohl noch kein Umsturz war - haben wir sie alle zertrampelt.
   Gleich nach dem Umsturz 1945 ist die Frau Kittel Leiterin der Personalabteilung geworden und hat mich als Sekretärin genommen. Sie konnte sicher nicht allein bestimmen, wer entlassen werden sollte, sondern das wurde aufgrund der Akten mit der Direktion abgesprochen. Zuerst wurde alles entlassen, aber dann hat man amnestiert, sonst hätten sie wahrscheinlich überhaupt niemanden mehr gehabt. Natürlich waren nicht alle 4000 Angestellten der Krankenkasse Nazi ... Der Vorgänger von Frau Kittel, der war nur so ein Parteibuchnazi, der hat sich ja zu Tode gekränkt, daß man die Frau Kittel ihm vorgezogen hat, obwohl er doch gar kein richtiger Nazi war.
   Die Krankenkasse war schon mehr eine Männerdomäne, und Hauptabteilungsleiterinnen hat es überhaupt nicht gegeben. Sie war vielen ein Dorn im Auge, aber sie hat sich bis zu ihrer Pensionierung gehalten."


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