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"Wer weiß, ob Du jetzt
auch wirst kommen können am 1. Mai" fragt Vally in ihrem Brief vom 10.
April 1940 bedrückt. Das Wörtchen "jetzt" nimmt Bezug auf die
Kriegsereignisse, die einen Tag zuvor wieder mit aller Heftigkeit aufgeflammt
waren. "Weserübung" - hinter diesem Namen verbarg sich die Besetzung der
neutralen Länder Dänemark und Norwegen.
Daß Hitler Krieg wollte, hatten Valerie Kittel und
ihr Kreis schon 1938 gewußt. Am 11. März, als Bundeskanzler Dr. Kurt
Schuschnigg im Radio seine letzte Ansprache hielt
("Der Herr
Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volk
mitzuteilen, daß wir der Gewalt weichen ..."), sei gerade in ihrer
Wohnung ein illegales Treffen mit den sozialdemokratischen Freunden abgehalten
worden." Unser ganzes Zimmer war voller Leute. Die sind natürlich nach
dieser Mitteilung alle davongestoben. Da haben wir wirklich Angst gehabt, weil
wir ja gewußt haben, was kommen wird", erinnert sich Valerie.
Am 12. März 1938 ging Frau Kittel wie jeden Tag in
ihr Büro in die Krankenkasse. "Es hat sich alles geändert. Jetzt sind
die Christlichsozialen, die seit 1934 in der Leitung waren, ihrerseits alle
weggekommen." Es seien Unmengen von neuen Leuten aufgenommen worden. "Das waren
in erster Linie SA
- Männer, die sind in Uniform ins Büro gekommen, mit den Stiefeln und
mit der Uniform! Die haben dann natürlich auch das große Wort
geführt, und die anderen waren halt eingeschüchtert. Aber sie haben
vom Fach nichts verstanden, und daher waren ihnen die von früher
übriggebliebenen Angestellten so wie ich ganz willkommen."
Eine antisemitische Äußerung aus dem
Kollegenkreis am Morgen des 12. März ist ihr besonders in Erinnerung
geblieben: "Ein Kollege ist in der Früh, wie wir alle zum Dienst
angetreten sind, einfach zu einer jüdischen Kollegin,
Jenny
Glücksam, hingegangen und hat ihr wortlos eine heruntergehaut. Der hat
sich auf diese Weise deklariert. Das ist natürlich lange Zeit
Gesprächsstoff gewesen. Wir haben sie alle besonders bemitleidet und
bedauert. Die meisten waren empört, und die nicht empört waren, haben
sich vorsichtshalber nicht geäußert. Solche Erlebnisse hat man haben
müssen! Aber die Juden - und bei uns waren viele jüdische
Angestellte, weil wir den Handel vertreten haben - sind dann sowieso am selben
Tag noch außer Dienst gestellt worden und durften das Büro gar nicht
mehr betreten." Die sozialistischen Gruppierungen, in
deren Rahmen Valerie Kittel tätig gewesen war, nämlich die
Revolutionären Sozialisten und die illegalen Freien Gewerkschaften, hatten
die Bedrohung der österreichischen Freiheit schon vor dem
verhängnisvollen März erkannt. Zwar hatten sie nach dem Zerfall der
Monarchie den Anschluß an Deutschland angestrebt, aber ihnen war
natürlich keine Diktatur vorgeschwebt, sondern eine freie Demokratie unter
sozialdemokratischer Führung. Vom Nationalsozialismus distanzierten sie
sich. Otto Bauer
schrieb am 1. Marz 1938 in der Brünner "Arbeiter-Zeitung":
"Aber so groß die Gefahr ist, so kann sie noch
immer abgewendet werden, wenn sich das österreichische Volk ermannt, den
Erpressungen Hitlers kraftvollen Widerstand entgegenzusetzen. Ohne die
Mitwirkung der Arbeiterschaft ist ein solcher Widerstand freilich undenkbar.
Sie ist bereit, gegen Hitler, aber nicht bereit für Schuschnigg zu
kämpfen. Für die Arbeiterschaft bleibt das Kampfziel der Freiheit im
Inneren mit dem Kampfziel der Unabhängigkeit nach Außen untrennbar
verknüpft." Bundeskanzler Schuschnigg empfing am 3. März eine
Delegation der illegalen Gewerkschaften. Man bot ihm Unterstützung im
Kampf gegen Nazi-Deutschland an. Doch die Antipathie der
innerösterreichischen Kontrahenten verzögerte eine wirkungsvolle
Annäherung. Die Ereignisse überrollten die beiden
zahlenmäßig größten antinazistischen Kräfte in
Österreich. Am 11. März
verbot die letzte Konferenz der Revolutionären Sozialisten allen
Parteiangehörigen jegliche Untergrundarbeit für die nächsten
drei Monate. Eine neue Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten
wurde in Paris eingerichtet und befürwortete den Beschluß, die in
der Heimat tätigen Untergrundgruppen aufzulösen. Die Parole
hieß jetzt "Abwarten". Offener Widerstand schien selbstmörderisch,
da den Nazis die Namen von 5000 illegalen Parteiaktivisten bekannt waren. Die
Führung der RS empfahl deshalb vorsichtige Zurückhaltung.
Dr. Karl Renner, der
den Krieg hindurch in Österreich blieb, ließ die Landsleute am 3.
April via "Wiener Tagblatt" wissen, er werde "als Sozialdemokrat und somit als
Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen als erster Kanzler der
Republik Deutschösterreich und als gewesener Präsident ihrer
Friedensdelegation zu St-Germain" bei der am 10. April anberaumten
Volksabstimmung über den bereits vollzogenen Anschluß
Österreichs an den Nazi-Norden mit "Ja" stimmen.
Welche Farce diese Abstimmung war, zeigt unter anderem,
daß schon am 13. März ein
Gesetz über die
"Wiedervereinigung" erlassen wurde. Der Artikel I lautete: "Österreich
ist ein Land des Deutschen Reiches." Valerie Kittel
fehlte im jubelnden Empfangskomitee, das viele Österreicher Adolf Hitler
am 15. März
1938 auf dem Wiener Heldenplatz bereiteten. Wie verhielt sie sich bei der
Volksabstimmung? "Ich glaube, daß wir mit Ja gestimmt haben. Es wäre
uns nichts anderes übriggeblieben", sagt sie zögernd. Das
Resultat
hieß in Österreich 99,73 %, im "Altreich" 99,03 % Stimmen für
den Anschluß. Bald verschwand der Name
"Österreich " aus dem offiziellen Sprachgebrauch. Das wurde im April 1939
durch den sogenannten "Ostmark-Akt" besiegelt. Später vermied man auch den
noch irgendwie an Eigenständigkeit erinnernden Namen "Ostmark" und
zählte nur mehr die sieben Gaue auf. Diese sieben Reichsgaue, die
einstmals Österreich gewesen waren, unterstanden den Zentralbehörden
in Berlin. "Während dieser einschneidenden
Vorgänge wurde den österreichischen Institutionen durch strengste
Maßnahmen das totalitäre System aufgezwungen und gleichzeitig mit
materialistischer Beschäftigungstherapie und nationalistischem Wahnsinn
die Geduld des einzelnen Bürgers auf die Probe gestellt. Unter der
Oberfläche einer angeblich vereinten großdeutschen Gemeinschaft
standen Teile der früheren politischen Bewegungen, ob es sich um
Kommunisten, Sozialisten, Monarchisten, Katholiken, Liberale oder den
Heimatschutz handelte, dem Regime zutiefst mißtrauisch und
haßerfüllt gegenüber", schreibt
Radomir Luža
in seinem Buch über den österreichischen Widerstand 1938 bis 1945.
"Aber", fährt er fort, "Hitlers internationale Erfolge, seine
Bestätigung durch breite Bevölkerungsschichten und ein mächtiger
Sicherheitsapparat isolierten diese kleinen Oppositionsgruppen".
Schon am 1. April 1938 wurden 150 Persönlichkeiten
des öffentlichen Lebens ins Konzentrationslager Dachau abtransportiert.
Alle politischen und öffentlichen Vereine wurden aufgelöst,
öffentliche Stellen von Nazi-Gegnern gesäubert, oppositionelle
Zeitungen eingestellt. Am 20. Juni 1939 führte man die deutschen
Bestimmungen über Hoch- und Landesverrat in Österreich ein, und
politische Auflehnung wurde zu einem strafbaren Vergehen erklärt. Mit
Ausbruch des Krieges im September 1939 spannte man die Zügel noch straffer
an. Das Abhören von ausländischen Rundfunksendern, Kontakt mit Juden,
negative Bemerkungen uber das Regime oder Hilfe für Gegner des Systems
waren nun verbrecherische Akte, die mit Strafen bis zum Tod geahndet wurden.
Sondergerichte wurden eingesetzt. Liest man Valerie
Kittels Briefe, so scheint es, als hätten die Menschen die Heimtücke
des Systems noch unterschätzt. Viele Stellen hätten - wären sie
in falsche Hände geraten - gereicht, um die Schreiberin vor ein
politisches Sondergericht zu bringen. Viele von Vallys
Freunden aus Büro und Partei waren Juden: Lola Stärk, Hans Reich,
Eugen Streussler sind bisher in den Briefen aufgetreten. Frau Peutl war mit
einem Juden verheiratet, Minnie Schüller war Halbjüdin. Die
systematische Verfolgung der Juden setzte mit der Entlassung aus
öffentlichen und halböffentlichen Dienststellen und dem Zwang zur
Auswanderung ein. Sofort nach dem Anschluß schickte Hitler Adolf Eichmann
nach Wien, um die Zentralstelle für
jüdische
Auswanderung einzurichten. In Österreich wurde die Austreibung der
Juden zum ersten Mal mit der für die nationalsozialistische
Judenverfolgung charakteristischen reibungslosen Organisation durchexerziert.
In weniger als 28 Monaten war Österreich von annähernd 150 000
Menschen - etwa 60 Prozent der jüdischen Bevölkerung - "gereinigt".
Darunter befanden sich viele der besten Freunde Vallys, wie Otto und Rosa sowie
deren Tochter Hildegard Ehrlich. Die zahlreichen
jüdischen Kollegen, die nun gehen mußten, "sind ratlos gewesen und
haben sich an mich als ehemals in der Personalabteilung Tätige gewendet,
was sie machen sollen. Sie waren natürlich sehr bedrückt, weil sie in
erster Linie schauen mußten, daß sie die Einreisebewilligung in
irgendein Land bekommen, sonst wäre eine Ausreise nicht möglich
gewesen. Und wenn sie dann schon bereit waren zum Ausreisen, hat man ihnen
wieder viele Schwierigkeiten gemacht. Sie mußten die Möbel verkaufen
oder überhaupt Hals über Kopf wegfahren und alles hier liegen und
stehen lassen und konnten nur das vorgeschriebene Gewicht an Koffern und
Gepäck mitnehmen. Sie mußten Bestätigungen vorlegen, daß
sie keine Steuerschulden haben und vom Erlös der verkauften Sachen auch
wieder Steuer abführen. Selbständige hatten besonders viele
Schwierigkeiten. Ob ich für sie wirklich einen Rat wußte, war
abhängig vom betreffenden Fall". Eine Folge dieser
verbotenen Ratschläge war die Versetzung Valeries in das Büro der
sich nun "Allgemeine Ortskrankenkasse Wien" nennenden Institution in der
Wipplingerstraße im ersten Bezirk. Valerie Kittel stand auch vielen
Müttern von emigrierten Freunden und Bekannten bei. So betreute sie die
Kriegsjahre hindurch Frau Peutl, die Mutter Fini Pleyls, und
Frau Stark, die
Mutter ihrer Freundin Grete Waloschek. 1940, zu Beginn
des Briefwechsels, war die Phase der Auswanderung im großen und ganzen
vorbei. Viele Freunde der Valerie Kittel lebten bereits in alle Welt verstreut.
Bald nach Kriegsbeginn war auch der briefliche Kontakt abgebrochen. Mit den
Freunden, die sich noch in Wien aufhielten, blieben die Verbindungen aufrecht.
Für Nichtjuden bedeutete der Exodus der
jüdischen Wiener, daß Wohnungen und Arbeitsplätze nun reichlich
zu haben waren. Toni Kittel fand eine Stelle in einem Fotogeschäft am
Kärntner Ring, Vallys Vater kam in der Rüstungsindustrie unter.
Hat man versucht Valerie Kittel zur Mitarbeit in der
nationalsozialistischen Partei oder in einer ihrer Organisationen zu bewegen?
"Vielleicht hat man's versucht. Aber man konnte sich
schon fernhalten." Außer man hat eine bestimmte Karriere machen wollen.
Ich hab halt auf mich alle Nachteile genommen, die damit verbunden waren, wenn
man nirgends dabei war. Ich war darauf vorbereitet, daß man Nachteile
hat." Am 24. August 1939 heirateten Toni und Vally
Kittel. "Ganz spontan, wahrscheinlich im Angesicht der Ereignisse, die man
erwartet hat." Die Gründe, die sie lange Jahre von diesem Entschluß
abgehalten hatten, galten nicht mehr. Die Familie war nicht mehr auf Vally als
Erhalterin angewiesen. Sie war beruflich nicht mehr durch das
Doppelverdienergesetz
gefährdet, und die nötigen zehn Jahre bis zur Pragmatisierung hatte
Vally Kittel in der "Kasse" bereits abgedient. "Am 1.
September ist dann das Ereignis eingetreten, das man hat mehr oder weniger
befürchten müssen." Nachdem den Nazis bei der Einverleibung
Österreichs und der Tschechoslowakei weder aus den betroffenen
Ländern noch von der internationalen Gemeinschaft her wesentlicher
Widerstand entgegengesetzt worden war, fielen sie in Polen ein.
Eine Woche vorher wurden in einer
"Sonderaktion" der
Gestapo mehr als 300 führende Sozialisten und Kommunisten verhaftet,
darunter so nahe Freunde Vallys wie Robert Uhlir. "Dann
ist Weihnachten vorübergegangen und im Laufe des Jänner ist eines
Tages die Einberufung gekommen".
An die Znaimer Zeit kann sich Frau Kittel kaum mehr
erinnern. "An kein Zimmer, kein Hotel, an gar nichts." Schon gar nicht an
Unstimmigkeiten und auch an keinen Urlaub: "Es hat nachher noch so viele
Urlaube gegeben." 1940, als Toni Kittel im 30. Lebensjahr
zum ersten Mal mit dem Militär in Kontakt kam, legte sich Dunkelheit um
Vallys Leben. Valerie Kittel machte keineswegs besonders viel mit, nur das, was
Krieg immer für Menschen bedeutet: Entbehrung, Trennung vom Liebsten und,
als ärgstes, unaufhörliche Todesfurcht. Diese Furcht setzte voll ein,
als Toni Kittel den Znaimer "Kriegsspielplatz" in Richtung Westfront
verließ. |