Wenn erst Friede ist  © 2005

ZNAIM - KOMMENTAR

Die Abrichtung



"Wer weiß, ob Du jetzt auch wirst kommen können am 1. Mai" fragt Vally in ihrem Brief vom 10. April 1940 bedrückt. Das Wörtchen "jetzt" nimmt Bezug auf die Kriegsereignisse, die einen Tag zuvor wieder mit aller Heftigkeit aufgeflammt waren. "Weserübung" - hinter diesem Namen verbarg sich die Besetzung der neutralen Länder Dänemark und Norwegen.
   Daß Hitler Krieg wollte, hatten Valerie Kittel und ihr Kreis schon 1938 gewußt. Am 11. März, als Bundeskanzler Dr. Kurt Schuschnigg im Radio seine letzte Ansprache hielt ("Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volk mitzuteilen, daß wir der Gewalt weichen ..."), sei gerade in ihrer Wohnung ein illegales Treffen mit den sozialdemokratischen Freunden abgehalten worden." Unser ganzes Zimmer war voller Leute. Die sind natürlich nach dieser Mitteilung alle davongestoben. Da haben wir wirklich Angst gehabt, weil wir ja gewußt haben, was kommen wird", erinnert sich Valerie.
   Am 12. März 1938 ging Frau Kittel wie jeden Tag in ihr Büro in die Krankenkasse. "Es hat sich alles geändert. Jetzt sind die Christlichsozialen, die seit 1934 in der Leitung waren, ihrerseits alle weggekommen." Es seien Unmengen von neuen Leuten aufgenommen worden. "Das waren in erster Linie SA - Männer, die sind in Uniform ins Büro gekommen, mit den Stiefeln und mit der Uniform! Die haben dann natürlich auch das große Wort geführt, und die anderen waren halt eingeschüchtert. Aber sie haben vom Fach nichts verstanden, und daher waren ihnen die von früher übriggebliebenen Angestellten so wie ich ganz willkommen."
   Eine antisemitische Äußerung aus dem Kollegenkreis am Morgen des 12. März ist ihr besonders in Erinnerung geblieben: "Ein Kollege ist in der Früh, wie wir alle zum Dienst angetreten sind, einfach zu einer jüdischen Kollegin, Jenny Glücksam, hingegangen und hat ihr wortlos eine heruntergehaut. Der hat sich auf diese Weise deklariert. Das ist natürlich lange Zeit Gesprächsstoff gewesen. Wir haben sie alle besonders bemitleidet und bedauert. Die meisten waren empört, und die nicht empört waren, haben sich vorsichtshalber nicht geäußert. Solche Erlebnisse hat man haben müssen! Aber die Juden - und bei uns waren viele jüdische Angestellte, weil wir den Handel vertreten haben - sind dann sowieso am selben Tag noch außer Dienst gestellt worden und durften das Büro gar nicht mehr betreten."
   Die sozialistischen Gruppierungen, in deren Rahmen Valerie Kittel tätig gewesen war, nämlich die Revolutionären Sozialisten und die illegalen Freien Gewerkschaften, hatten die Bedrohung der österreichischen Freiheit schon vor dem verhängnisvollen März erkannt. Zwar hatten sie nach dem Zerfall der Monarchie den Anschluß an Deutschland angestrebt, aber ihnen war natürlich keine Diktatur vorgeschwebt, sondern eine freie Demokratie unter sozialdemokratischer Führung. Vom Nationalsozialismus distanzierten sie sich. Otto Bauer schrieb am 1. Marz 1938 in der Brünner "Arbeiter-Zeitung":
   "Aber so groß die Gefahr ist, so kann sie noch immer abgewendet werden, wenn sich das österreichische Volk ermannt, den Erpressungen Hitlers kraftvollen Widerstand entgegenzusetzen. Ohne die Mitwirkung der Arbeiterschaft ist ein solcher Widerstand freilich undenkbar. Sie ist bereit, gegen Hitler, aber nicht bereit für Schuschnigg zu kämpfen. Für die Arbeiterschaft bleibt das Kampfziel der Freiheit im Inneren mit dem Kampfziel der Unabhängigkeit nach Außen untrennbar verknüpft." Bundeskanzler Schuschnigg empfing am 3. März eine Delegation der illegalen Gewerkschaften. Man bot ihm Unterstützung im Kampf gegen Nazi-Deutschland an. Doch die Antipathie der innerösterreichischen Kontrahenten verzögerte eine wirkungsvolle Annäherung. Die Ereignisse überrollten die beiden zahlenmäßig größten antinazistischen Kräfte in Österreich.
   Am 11. März verbot die letzte Konferenz der Revolutionären Sozialisten allen Parteiangehörigen jegliche Untergrundarbeit für die nächsten drei Monate. Eine neue Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten wurde in Paris eingerichtet und befürwortete den Beschluß, die in der Heimat tätigen Untergrundgruppen aufzulösen. Die Parole hieß jetzt "Abwarten". Offener Widerstand schien selbstmörderisch, da den Nazis die Namen von 5000 illegalen Parteiaktivisten bekannt waren. Die Führung der RS empfahl deshalb vorsichtige Zurückhaltung.
   Dr. Karl Renner, der den Krieg hindurch in Österreich blieb, ließ die Landsleute am 3. April via "Wiener Tagblatt" wissen, er werde "als Sozialdemokrat und somit als Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen als erster Kanzler der Republik Deutschösterreich und als gewesener Präsident ihrer Friedensdelegation zu St-Germain" bei der am 10. April anberaumten Volksabstimmung über den bereits vollzogenen Anschluß Österreichs an den Nazi-Norden mit "Ja" stimmen.
   Welche Farce diese Abstimmung war, zeigt unter anderem, daß schon am 13. März ein Gesetz über die "Wiedervereinigung" erlassen wurde. Der Artikel I lautete: "Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches."
   Valerie Kittel fehlte im jubelnden Empfangskomitee, das viele Österreicher Adolf Hitler am 15. März 1938 auf dem Wiener Heldenplatz bereiteten. Wie verhielt sie sich bei der Volksabstimmung? "Ich glaube, daß wir mit Ja gestimmt haben. Es wäre uns nichts anderes übriggeblieben", sagt sie zögernd. Das Resultat hieß in Österreich 99,73 %, im "Altreich" 99,03 % Stimmen für den Anschluß.
   Bald verschwand der Name "Österreich " aus dem offiziellen Sprachgebrauch. Das wurde im April 1939 durch den sogenannten "Ostmark-Akt" besiegelt. Später vermied man auch den noch irgendwie an Eigenständigkeit erinnernden Namen "Ostmark" und zählte nur mehr die sieben Gaue auf. Diese sieben Reichsgaue, die einstmals Österreich gewesen waren, unterstanden den Zentralbehörden in Berlin.
   "Während dieser einschneidenden Vorgänge wurde den österreichischen Institutionen durch strengste Maßnahmen das totalitäre System aufgezwungen und gleichzeitig mit materialistischer Beschäftigungstherapie und nationalistischem Wahnsinn die Geduld des einzelnen Bürgers auf die Probe gestellt. Unter der Oberfläche einer angeblich vereinten großdeutschen Gemeinschaft standen Teile der früheren politischen Bewegungen, ob es sich um Kommunisten, Sozialisten, Monarchisten, Katholiken, Liberale oder den Heimatschutz handelte, dem Regime zutiefst mißtrauisch und haßerfüllt gegenüber", schreibt Radomir Luža in seinem Buch über den österreichischen Widerstand 1938 bis 1945. "Aber", fährt er fort, "Hitlers internationale Erfolge, seine Bestätigung durch breite Bevölkerungsschichten und ein mächtiger Sicherheitsapparat isolierten diese kleinen Oppositionsgruppen".
   Schon am 1. April 1938 wurden 150 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ins Konzentrationslager Dachau abtransportiert. Alle politischen und öffentlichen Vereine wurden aufgelöst, öffentliche Stellen von Nazi-Gegnern gesäubert, oppositionelle Zeitungen eingestellt. Am 20. Juni 1939 führte man die deutschen Bestimmungen über Hoch- und Landesverrat in Österreich ein, und politische Auflehnung wurde zu einem strafbaren Vergehen erklärt. Mit Ausbruch des Krieges im September 1939 spannte man die Zügel noch straffer an. Das Abhören von ausländischen Rundfunksendern, Kontakt mit Juden, negative Bemerkungen uber das Regime oder Hilfe für Gegner des Systems waren nun verbrecherische Akte, die mit Strafen bis zum Tod geahndet wurden. Sondergerichte wurden eingesetzt.
   Liest man Valerie Kittels Briefe, so scheint es, als hätten die Menschen die Heimtücke des Systems noch unterschätzt. Viele Stellen hätten - wären sie in falsche Hände geraten - gereicht, um die Schreiberin vor ein politisches Sondergericht zu bringen.
   Viele von Vallys Freunden aus Büro und Partei waren Juden: Lola Stärk, Hans Reich, Eugen Streussler sind bisher in den Briefen aufgetreten. Frau Peutl war mit einem Juden verheiratet, Minnie Schüller war Halbjüdin. Die systematische Verfolgung der Juden setzte mit der Entlassung aus öffentlichen und halböffentlichen Dienststellen und dem Zwang zur Auswanderung ein. Sofort nach dem Anschluß schickte Hitler Adolf Eichmann nach Wien, um die Zentralstelle für jüdische Auswanderung einzurichten. In Österreich wurde die Austreibung der Juden zum ersten Mal mit der für die nationalsozialistische Judenverfolgung charakteristischen reibungslosen Organisation durchexerziert. In weniger als 28 Monaten war Österreich von annähernd 150 000 Menschen - etwa 60 Prozent der jüdischen Bevölkerung - "gereinigt". Darunter befanden sich viele der besten Freunde Vallys, wie Otto und Rosa sowie deren Tochter Hildegard Ehrlich.
   Die zahlreichen jüdischen Kollegen, die nun gehen mußten, "sind ratlos gewesen und haben sich an mich als ehemals in der Personalabteilung Tätige gewendet, was sie machen sollen. Sie waren natürlich sehr bedrückt, weil sie in erster Linie schauen mußten, daß sie die Einreisebewilligung in irgendein Land bekommen, sonst wäre eine Ausreise nicht möglich gewesen. Und wenn sie dann schon bereit waren zum Ausreisen, hat man ihnen wieder viele Schwierigkeiten gemacht. Sie mußten die Möbel verkaufen oder überhaupt Hals über Kopf wegfahren und alles hier liegen und stehen lassen und konnten nur das vorgeschriebene Gewicht an Koffern und Gepäck mitnehmen. Sie mußten Bestätigungen vorlegen, daß sie keine Steuerschulden haben und vom Erlös der verkauften Sachen auch wieder Steuer abführen. Selbständige hatten besonders viele Schwierigkeiten. Ob ich für sie wirklich einen Rat wußte, war abhängig vom betreffenden Fall".
   Eine Folge dieser verbotenen Ratschläge war die Versetzung Valeries in das Büro der sich nun "Allgemeine Ortskrankenkasse Wien" nennenden Institution in der Wipplingerstraße im ersten Bezirk. Valerie Kittel stand auch vielen Müttern von emigrierten Freunden und Bekannten bei. So betreute sie die Kriegsjahre hindurch Frau Peutl, die Mutter Fini Pleyls, und Frau Stark, die Mutter ihrer Freundin Grete Waloschek.
   1940, zu Beginn des Briefwechsels, war die Phase der Auswanderung im großen und ganzen vorbei. Viele Freunde der Valerie Kittel lebten bereits in alle Welt verstreut. Bald nach Kriegsbeginn war auch der briefliche Kontakt abgebrochen. Mit den Freunden, die sich noch in Wien aufhielten, blieben die Verbindungen aufrecht.
   Für Nichtjuden bedeutete der Exodus der jüdischen Wiener, daß Wohnungen und Arbeitsplätze nun reichlich zu haben waren. Toni Kittel fand eine Stelle in einem Fotogeschäft am Kärntner Ring, Vallys Vater kam in der Rüstungsindustrie unter.
   Hat man versucht Valerie Kittel zur Mitarbeit in der nationalsozialistischen Partei oder in einer ihrer Organisationen zu bewegen?
   "Vielleicht hat man's versucht. Aber man konnte sich schon fernhalten." Außer man hat eine bestimmte Karriere machen wollen. Ich hab halt auf mich alle Nachteile genommen, die damit verbunden waren, wenn man nirgends dabei war. Ich war darauf vorbereitet, daß man Nachteile hat."
   Am 24. August 1939 heirateten Toni und Vally Kittel. "Ganz spontan, wahrscheinlich im Angesicht der Ereignisse, die man erwartet hat." Die Gründe, die sie lange Jahre von diesem Entschluß abgehalten hatten, galten nicht mehr. Die Familie war nicht mehr auf Vally als Erhalterin angewiesen. Sie war beruflich nicht mehr durch das Doppelverdienergesetz gefährdet, und die nötigen zehn Jahre bis zur Pragmatisierung hatte Vally Kittel in der "Kasse" bereits abgedient.
   "Am 1. September ist dann das Ereignis eingetreten, das man hat mehr oder weniger befürchten müssen." Nachdem den Nazis bei der Einverleibung Österreichs und der Tschechoslowakei weder aus den betroffenen Ländern noch von der internationalen Gemeinschaft her wesentlicher Widerstand entgegengesetzt worden war, fielen sie in Polen ein.
   Eine Woche vorher wurden in einer "Sonderaktion" der Gestapo mehr als 300 führende Sozialisten und Kommunisten verhaftet, darunter so nahe Freunde Vallys wie Robert Uhlir.
   "Dann ist Weihnachten vorübergegangen und im Laufe des Jänner ist eines Tages die Einberufung gekommen".
   An die Znaimer Zeit kann sich Frau Kittel kaum mehr erinnern. "An kein Zimmer, kein Hotel, an gar nichts." Schon gar nicht an Unstimmigkeiten und auch an keinen Urlaub: "Es hat nachher noch so viele Urlaube gegeben."
   1940, als Toni Kittel im 30. Lebensjahr zum ersten Mal mit dem Militär in Kontakt kam, legte sich Dunkelheit um Vallys Leben. Valerie Kittel machte keineswegs besonders viel mit, nur das, was Krieg immer für Menschen bedeutet: Entbehrung, Trennung vom Liebsten und, als ärgstes, unaufhörliche Todesfurcht. Diese Furcht setzte voll ein, als Toni Kittel den Znaimer "Kriegsspielplatz" in Richtung Westfront verließ.


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