Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE FRANKREICH

Westfront, 24. April 1940

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Kommentar

Jetzt sind es schon wieder 4 Tage, seit ich von Dir Abschied genommen. Ich habe Dir noch lange nachgesehen und mußte mich sehr beherrschen, um nicht zu weinen wie ein kleines Kind. Wir fuhren erst um 1 Uhr weg, und als wir die Verbindungsbahn hinaufpufften, dachte ich ganz fest an mein liebes kleines Spatzilein, das wohl schon in seinem Bett gelegen ist und hoffentlich ganz fest geschlafen hat.
Ich kann es noch immer nicht glauben, daß ich jetzt über 1000 km von Dir entfernt bin und Dich wahrscheinlich lange nicht werde sehen können.
Wegen eines Besuchs von Dir muß ich mich erst erkundigen, da ja die meisten Ortschaften leer sind und überhaupt nichts los ist. Ich denke über nichts mehr nach, denn es ist alles so furchtbar und trostlos. Die Offiziere und Unteroffiziere haben uns bis zur letzten Kaserne begleitet und fahren von dort wieder nach Wien zurück. Einer davon wird so lieb sein und Dir am Telefon einiges erzählen. Ich selbst befinde mich in einem ganz großen modernen Bunker mit drei Stockwerken, elektrischem Licht, kalt-warm Wasserspeicher und englischem Closet. Man kann es nicht fassen, daß man von außen nichts sieht, in ein kleines Loch hineinkriecht und in eine schöne Kaserne hineinkommt mit Unterkünften, Telefonzentralen, Geschäftszimmer, Licht und Entlüftungsanlagen. Momentan ist mir alles noch ein bißchen unheimlich. Außerdem bin ich von allen Kameraden weg. Wir sind nämlich ganz aufgeteilt worden und jeder ist woanders hingekommen. Außerdem haben alle ganz neue Vorgesetzte und das macht natürlich auch viel aus. Ich bin derzeit beim Bataillonsstab als Zeichner eingeteilt und ich hoffe, daß meine neuen Vorgesetzten mit mir zufrieden sind. Die Arbeit ist angenehm und sehr interessant. Dienst mache ich keinen. Vom Leben und Treiben hier kann ich Dir noch nicht viel erzählen, da ich doch erst seit gestern hier bin.
Es brennt natürlich den ganzen Tag elektrisches Licht und die Luftzufuhr wird automatisch geregelt. Wenn schlechte Luft ist, fängt automatisch der Ventilator zu laufen an. Der Radio läuft den ganzen Tag und ist in jedem Raum vorhanden. Mittags und abends gehen wir an die frische Luft und ans Tageslicht. Es ist alles so ungewöhnlich. Dabei hören wir das alltägliche (so berichten die anderen Kameraden) Getöse der M.G. und Geschütze. Ansonsten soll es hier ungefährlich sein, außer im Vorfeld, also vor den Bunkern. Gleich ist es 22 Uhr und ich muß in mein Hängebett (3 übereinander).
Nun gute Nacht mein liebes kleines Wallilein und bitte, schreibe mir gleich, damit ich weiß, ob du meine Post bekommen hast. 1,000.000 Bussi auf alle meine "Lieben".


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen