Wenn erst Friede ist  © 2005

NOCH MEHR GERECHTE

Die "Heldin" dieses Buches ist - obwohl es sich um den Briefwechsel eines Ehepaares handelt - eindeutig Valerie Kittel. Während die Stationen des Soldatenlebens von Anton Kittel den äußeren Aufbau prägen, ist der Inhalt der Briefe von Valeries Hoffnungen und Verzweiflung bestimmt. In einer politischen Situation, die Werte wie Gerechtigkeit, Anständigkeit und Toleranz pervertierte, brachten es Valerie, ihr Ehemann und andere Menschen, die in den Briefen vorkommen, zustande, mit Anstand zu überleben. Sie verweigerten die Anbiederung, Mitleiden blieb für sie eine natürliche Regung, aus der heraus Hilfeleistungen eine Selbstverständlichkeit waren.
    Für ihre aufrechte Haltung wurde Valerie Kittel nach dem Ende der Nazi-Zeit belohnt, wenn sich auch der Titel "Abteilungsleiterin" im Vergleich zu den Funktionen, mit denen aufrechte Männer belohnt wurden, bescheiden ausnimmt.

Der Zufall hat bei der Auswahl gerade dieses Stückchens österreichischer Kriegsrealität, das in den Kittelschen Briefen aufscheint, die Hauptrolle gespielt. Ich lernte Valerie Kittel bei einem Interview für das Buch "Frauen der ersten Stunde" kennen. Sie zeigte mir die Briefe, die sie und ihr Mann während der Kriegsjahre gewechselt hatten. Da Valerie Kittel ein sehr politischer Mensch ist, sind diese Briefe zu seismographischen Aufzeichnungen der politischen Ereignisse dieser Jahre geworden. Sie vermitteln aber auch einen Blick auf die individuellen Reaktionen und Verhaltensmotive anderer österreichischer Regimegegner.
    Da Valerie Kittel aus der Arbeiterklasse stammt, in der sozialdemokratischen Bewegung zu Hause war und in der Krankenkasse der Kaufmännischen Angestellten arbeitete, ist die Zusammensetzung der "handelnden" Personen klar - ehemalige Genossen und jüdische Freunde.
    Bei der Auswahl von 371 aus insgesamt 615 Briefen und bei deren Kürzung war mir an einem möglichst vielfältigen Lebensspektrum der Kriegsjahre gelegen: die Belastungen und Freuden der Partnerschaft, die Mühseligkeit des Alltags und die Möglichkeiten, auch in Krieg und Diktatur dem Leben noch einen Rest Freude abzugewinnen, die Angst um die nächsten Menschen an der Front und die Bedrohung durch Verfolgung und Bomben im Hinterland sollten zum Ausdruck kommen. Am wesentlichsten aber schien mir, daß diese Briefe geeignet sind, zu zeigen, wie Regimegegner - in diesem Fall hauptsächlich Sozialdemokraten oder Menschen, die der Sozialdemokratie nahestanden - die Nazi-Zeit überlebten.

    "Widerstand" wird unter Historikern sehr verschieden definiert. "Der Widerstand ist ein patriotischer Kampf für die Befreiung des Vaterlandes" und "ein Kampf gegen den Totalitarismus für Freiheit und Menschenwürde", lautet eine Definition, in die Valerie Kittel und ihre Freunde sich nicht fügen. Radomir Luža beschreibt Widerstand im Gegensatz zu "bloßer" Opposition als "jede politisch bewußte, vornehmlich konspirative organisierte Aktivität ..., die von den nationalsozialistischen und faschistischen Regierungen als feindlich empfunden und für illegal erklärt wurde".
    Es ist verständlich, daß sich Wissenschaftler in Österreich und Deutschland angesichts der dünn gesäten Widerstandstätigkeit, die diesem Raster entspricht, um eine Erweiterung des Widerstandsbegriffes bemühten. Nur so ist es möglich, weniger bewußt kämpferische und nicht organisierte Formen der Regimekritik von opportunistischer Anpassung und Anbiederung abzuheben. Am großzügigsten formuliert wohl Karl Stadler: "Angesichts des totalen Gehorsamkeitsanspruches der Machthaber und der auf seine Verletzung drohenden Sanktionen muß jegliche Opposition im Dritten Reich als Widerstandshandlung gewertet werden, wenn es sich auch um einen einzelnen Versuch handelt, anständig zu bleiben." In dieses Widerstandsverständnis würden auch die Kittels passen.
    Geeigneter zur Beurteilung der Kittelschen Haltung scheint mir jedoch das Instrumentarium, das Gerhard Botz erarbeitet hat. Er unterscheidet zwischen politischem Widerstand, sozialem Protest und abweichendem Verhalten, wobei etwa Fanny Vobr und Robert Uhlir zu gewissen Zeiten dem ersten Begriff unterzuordnen wären, Valerie Kittel aber - was ihr Verhalten ab 1938 angeht - unter den zweiten. Dies deckt sich auch eher mit ihrer Selbsteinschätzung. Sie leistete zivilen Ungehorsam und politische Abstinenz. In einer Zeit, die "so furchtbar arm an Gesten einfachster Menschlichkeit war" (Arendt), zeigten sie und andere, zum Beispiel das Ehepaar Paul, daß Menschlichkeit noch existierte. In einer Zeit, in der Mitleid als "animalische" Regung ausgemerzt und nur mehr als das "Selbstmitleid der Massenmörder" erlaubt sein sollte (Arendt), ließ Valerie Kittel dem Mitleiden freien Lauf. Und in einer Zeit, in der man versuchte, durch Gesetze das Rechtsempfinden auf den Kopf zu stellen und das Gewissen mit Nazi-Propaganda "gehirnzuwaschen", blieb sie stark genug, Unrecht als Unrecht zu benennen.
    Valerie Kittel, das Ehepaar Paul und andere Menschen in den Briefen könnten vielleicht Erika Weinzierls Liste der "Gerechten" Österreichs ein wenig verlängern.
    Versucht man also, die Haltung der Gruppe um Valerie Kittel (nicht frei von Wertung) zu analysieren, so war sie im Vergleich zum grausamen Zeitgeist und lethargischen Opportunismus eines großen Teils der Bevölkerung mutig - und für eine positive Identitätsfindung der Nachgeborenen ermutigend. Hätten sich alle oder zumindest viel mehr Menschen zur selben Art stillen Ungehorsams und lautloser Opposition bereitgefunden, wären Massenmorde, ob an der Front oder im KZ, nicht durchführbar gewesen.
    Als Strategie, um ähnliche verhängnisvolle Entwicklungen in Zukunft zu vermeiden, reichen passives Erdulden und verzweifeltes Wegsehen aber sicher nicht. Solange die Gegner schweigen, verfehlt die Opposition ihre Wirkung auf die soziale Umgebung, sie bleibt sozusagen im "Elfenbeinturm", und die Mörder können ungestört ans Werk gehen.

Als ergänzende Quellen zu den Kittelschen Briefen wurden Tagebuchnotizen, Dokumente, Zeitungen und Briefe anderer Zeitgenossen verwendet. Die vorhandenen persönlichen Zeugnisse versuchte ich mit Hilfe von Sekundärliteratur zum Thema in den zeitgeschichtlichen Rahmen einzuordnen. Den historischen Hintergrund habe ich jedoch nur insoweit erwähnt, als er zum Verständnis der Briefe nötig schien. Um die Texte lesbarer zu machen, habe ich Kürzungen nicht extra kenntlich gemacht. (Sämtliche Briefe sind im Verein für Geschichte der Arbeiterforschung in Wien einsehbar.) Aus demselben Grund ließ ich nach dem ersten Brief die Anreden aus und verzichtete auf Fußnoten. Die Anmerkungen sind am Schluß des Buches unter der jeweiligen Seitenzahl zu finden. Alle Informationen, die nicht mit einer Literatur- oder Personenangabe versehen sind, stammen von Valerie Kittel. Die Rechtschreibung habe ich den heutigen Normen angeglichen.
    Für Informationen, Hilfe und Beratung danke ich dem Bund jüdischer Verfolgter, dem Bezirkssekretariat der SPÖ-Penzing, Dr. Georg Klein von der Wiener Gebietskrankenkasse, Dr. Susanne Feigl, Dr. Elfriede Kurz, Dr. Sepp Linhart, Dr. Manfred Rauchensteiner, Irmgard Schlatermund und Prof. Dr. Erika Weinzierl. Finanziell wurde das Projekt durch ein Wissenschaftsstipendium des Kulturamtes der Stadt Wien unterstützt.
    Besonders möchte ich allen jenen danken, die sich für zeitraubende Interviews zur Verfügung gestellt haben, in erster Linie natürlich Valerie Kittel. Sie fand ein halbes Jahr hindurch Woche für Woche Zeit, jeden einzelnen Brief zu besprechen. Weiters danke ich: Grete und Ernst Holzfeind, Johanna Jakob, Mizzi Krämer, Maria und Franz Paul, Alois Piperger, Dr. Franz Richter, Josefine Seboth, Franz Senghofer, Ludwig Sperlich, Hilde Uhlir, Lea Welch und Willi Zvacek.
    Sie alle haben Einblicke in die rationalen und emotionalen Reaktionen einzelner Menschen unter einem Gewaltregime ermöglicht, wie sie nur von Zeitgenossen überliefert werden können. Mit den von ihnen geschilderten Haltungen, Beweggründen, Überlegungen, Handlungen und Unterlassungen vermitteln sie später Geborenen ein authentisches Spektrum von Verhaltensmustern in einer diktatorischen Gesellschaft. Und schließlich haben sie jene in die Schranken gewiesen, die immer noch behaupten, man habe von allem nichts gewußt.


Zu Valerie Kittels Leben nach dem Krieg siehe "Valerie K. (1905) Eine Frau macht Karriere".
Valerie Kittel starb am 30. Mai 1995.


Ruth Linhart | Briefe 1945 | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen