Die "Heldin" dieses Buches ist
- obwohl es sich um den Briefwechsel eines Ehepaares handelt - eindeutig
Valerie Kittel. Während die Stationen des Soldatenlebens von Anton Kittel
den äußeren Aufbau prägen, ist der Inhalt der Briefe von
Valeries Hoffnungen und Verzweiflung bestimmt. In einer politischen Situation,
die Werte wie Gerechtigkeit, Anständigkeit und Toleranz pervertierte,
brachten es Valerie, ihr Ehemann und andere Menschen, die in den Briefen
vorkommen, zustande, mit Anstand zu überleben. Sie verweigerten die
Anbiederung, Mitleiden blieb für sie eine natürliche Regung, aus der
heraus Hilfeleistungen eine Selbstverständlichkeit waren.
Für ihre aufrechte Haltung wurde Valerie Kittel
nach dem Ende der Nazi-Zeit belohnt, wenn sich auch der Titel
"Abteilungsleiterin" im Vergleich zu den Funktionen, mit denen aufrechte
Männer belohnt wurden, bescheiden ausnimmt.
Der Zufall hat bei
der Auswahl gerade dieses Stückchens österreichischer
Kriegsrealität, das in den Kittelschen Briefen aufscheint, die Hauptrolle
gespielt. Ich lernte Valerie Kittel bei einem Interview für das Buch "Frauen der ersten Stunde" kennen. Sie zeigte mir die
Briefe, die sie und ihr Mann während der Kriegsjahre gewechselt hatten. Da
Valerie Kittel ein sehr politischer Mensch ist, sind diese Briefe zu
seismographischen Aufzeichnungen der politischen Ereignisse dieser Jahre
geworden. Sie vermitteln aber auch einen Blick auf die individuellen Reaktionen
und Verhaltensmotive anderer österreichischer Regimegegner.
Da Valerie Kittel aus der Arbeiterklasse stammt, in der
sozialdemokratischen Bewegung zu Hause war und in der Krankenkasse der
Kaufmännischen Angestellten arbeitete, ist die Zusammensetzung der
"handelnden" Personen klar - ehemalige Genossen und jüdische Freunde.
Bei der Auswahl von 371 aus insgesamt 615 Briefen und
bei deren Kürzung war mir an einem möglichst vielfältigen
Lebensspektrum der Kriegsjahre gelegen: die Belastungen und Freuden der
Partnerschaft, die Mühseligkeit des Alltags und die Möglichkeiten,
auch in Krieg und Diktatur dem Leben noch einen Rest Freude abzugewinnen, die
Angst um die nächsten Menschen an der Front und die Bedrohung durch
Verfolgung und Bomben im Hinterland sollten zum Ausdruck kommen. Am
wesentlichsten aber schien mir, daß diese Briefe geeignet sind, zu
zeigen, wie Regimegegner - in diesem Fall hauptsächlich Sozialdemokraten
oder Menschen, die der Sozialdemokratie nahestanden - die Nazi-Zeit
überlebten.
"Widerstand" wird
unter Historikern sehr verschieden definiert. "Der Widerstand ist ein
patriotischer Kampf für die Befreiung des Vaterlandes" und "ein Kampf
gegen den Totalitarismus für Freiheit und Menschenwürde", lautet eine
Definition, in die Valerie Kittel und ihre Freunde sich nicht fügen.
Radomir Luža beschreibt Widerstand im Gegensatz zu "bloßer"
Opposition als "jede politisch bewußte, vornehmlich konspirative
organisierte Aktivität ..., die von den nationalsozialistischen und
faschistischen Regierungen als feindlich empfunden und für illegal
erklärt wurde". Es ist verständlich, daß
sich Wissenschaftler in Österreich und Deutschland angesichts der
dünn gesäten Widerstandstätigkeit, die diesem Raster entspricht,
um eine Erweiterung des Widerstandsbegriffes bemühten. Nur so ist es
möglich, weniger bewußt kämpferische und nicht organisierte
Formen der Regimekritik von opportunistischer Anpassung und Anbiederung
abzuheben. Am großzügigsten formuliert wohl
Karl Stadler:
"Angesichts des totalen Gehorsamkeitsanspruches der Machthaber und der auf
seine Verletzung drohenden Sanktionen muß jegliche Opposition im Dritten
Reich als Widerstandshandlung gewertet werden, wenn es sich auch um einen
einzelnen Versuch handelt, anständig zu bleiben." In dieses
Widerstandsverständnis würden auch die Kittels passen.
Geeigneter zur Beurteilung der Kittelschen Haltung
scheint mir jedoch das Instrumentarium, das Gerhard Botz erarbeitet hat. Er
unterscheidet zwischen politischem Widerstand, sozialem Protest und
abweichendem Verhalten, wobei etwa Fanny Vobr und Robert Uhlir zu gewissen
Zeiten dem ersten Begriff unterzuordnen wären, Valerie Kittel aber - was
ihr Verhalten ab 1938 angeht - unter den zweiten. Dies deckt sich auch eher mit
ihrer Selbsteinschätzung. Sie leistete zivilen Ungehorsam und politische
Abstinenz. In einer Zeit, die "so furchtbar arm an Gesten einfachster
Menschlichkeit
war" (Arendt), zeigten sie und andere, zum Beispiel das Ehepaar Paul, daß
Menschlichkeit noch existierte. In einer Zeit, in der
Mitleid als
"animalische" Regung ausgemerzt und nur mehr als das "Selbstmitleid der
Massenmörder" erlaubt sein sollte (Arendt), ließ Valerie Kittel dem
Mitleiden freien Lauf. Und in einer Zeit, in der man versuchte, durch Gesetze
das Rechtsempfinden auf den Kopf zu stellen und das Gewissen mit
Nazi-Propaganda "gehirnzuwaschen", blieb sie stark genug, Unrecht als Unrecht
zu benennen. Valerie Kittel, das Ehepaar Paul und andere
Menschen in den Briefen könnten vielleicht Erika Weinzierls Liste der
"Gerechten"
Österreichs ein wenig verlängern. Versucht man
also, die Haltung der Gruppe um Valerie Kittel (nicht frei von Wertung) zu
analysieren, so war sie im Vergleich zum grausamen Zeitgeist und lethargischen
Opportunismus eines großen Teils der Bevölkerung mutig - und
für eine positive Identitätsfindung der Nachgeborenen ermutigend.
Hätten sich alle oder zumindest viel mehr Menschen zur selben Art stillen
Ungehorsams und lautloser Opposition bereitgefunden, wären Massenmorde, ob
an der Front oder im KZ, nicht durchführbar gewesen.
Als Strategie, um ähnliche verhängnisvolle
Entwicklungen in Zukunft zu vermeiden, reichen passives Erdulden und
verzweifeltes Wegsehen aber sicher nicht. Solange die Gegner schweigen,
verfehlt die Opposition ihre Wirkung auf die soziale Umgebung, sie bleibt
sozusagen im "Elfenbeinturm", und die Mörder können ungestört
ans Werk gehen.
Als ergänzende Quellen zu den Kittelschen Briefen
wurden Tagebuchnotizen, Dokumente, Zeitungen und Briefe anderer Zeitgenossen
verwendet. Die vorhandenen persönlichen Zeugnisse versuchte ich mit Hilfe
von Sekundärliteratur zum Thema in den zeitgeschichtlichen Rahmen
einzuordnen. Den historischen Hintergrund habe ich jedoch nur insoweit
erwähnt, als er zum Verständnis der Briefe nötig schien. Um die
Texte lesbarer zu machen, habe ich Kürzungen nicht extra kenntlich
gemacht. (Sämtliche Briefe sind im Verein für Geschichte der
Arbeiterforschung in Wien einsehbar.) Aus demselben Grund ließ ich nach
dem ersten Brief die Anreden aus und verzichtete auf Fußnoten. Die
Anmerkungen sind am Schluß des Buches unter der jeweiligen Seitenzahl zu
finden. Alle Informationen, die nicht mit einer Literatur- oder Personenangabe
versehen sind, stammen von Valerie Kittel. Die Rechtschreibung habe ich den
heutigen Normen angeglichen. Für Informationen,
Hilfe und Beratung danke ich dem Bund jüdischer Verfolgter, dem
Bezirkssekretariat der SPÖ-Penzing, Dr. Georg Klein von der Wiener
Gebietskrankenkasse, Dr. Susanne Feigl, Dr. Elfriede Kurz, Dr. Sepp Linhart,
Dr. Manfred Rauchensteiner, Irmgard Schlatermund und Prof. Dr. Erika Weinzierl.
Finanziell wurde das Projekt durch ein Wissenschaftsstipendium des Kulturamtes
der Stadt Wien unterstützt. Besonders möchte
ich allen jenen danken, die sich für zeitraubende Interviews zur
Verfügung gestellt haben, in erster Linie natürlich Valerie Kittel.
Sie fand ein halbes Jahr hindurch Woche für Woche Zeit, jeden einzelnen
Brief zu besprechen. Weiters danke ich: Grete und Ernst Holzfeind, Johanna
Jakob, Mizzi Krämer, Maria und Franz Paul, Alois Piperger, Dr. Franz
Richter, Josefine Seboth, Franz Senghofer, Ludwig Sperlich, Hilde Uhlir, Lea
Welch und Willi Zvacek. Sie alle haben Einblicke in die
rationalen und emotionalen Reaktionen einzelner Menschen unter einem
Gewaltregime ermöglicht, wie sie nur von Zeitgenossen überliefert
werden können. Mit den von ihnen geschilderten Haltungen,
Beweggründen, Überlegungen, Handlungen und Unterlassungen vermitteln
sie später Geborenen ein authentisches Spektrum von Verhaltensmustern in
einer diktatorischen Gesellschaft. Und schließlich haben sie jene in die
Schranken gewiesen, die immer noch behaupten, man habe von allem nichts
gewußt.
Zu Valerie Kittels Leben nach dem
Krieg siehe "Valerie K.
(1905) Eine Frau macht Karriere". Valerie Kittel starb am 30. Mai
1995. |