Wenn erst Friede ist  © 2005

MÜNSTERBERG - KOMMENTAR

In Warteposition


















































"Ich habe das Gefühl gehabt, daß er dort sein Leben mit Nichtstun verbringt und das ist für Männer nicht sehr angebracht, überhaupt, wenn die Frau ein bißl aufpassen will", kommentiert Valerie Kittel meine Vermutung, es habe in der Münsterberger Zeit zwischen dem Ehepaar Unstimmigkeiten gegeben. Viele durchgestrichene Stellen in den Originalbriefen, abgeschnittene Briefseiten und einige für diese Publikation neu abgeschriebene Briefe haben mich auf diese Idee gebracht. Vally: "Ich mußte ihn von Wien aus bei guter Laune halten und war selbst nicht gut gelaunt." Auf meinen Einwand, ihrem Mann habe es in Münsterberg doch anscheinend recht gut gefallen, lacht sie herzlich: "Naja, die haben dort viel Zeit gehabt und sich vergnügt. Alles hat er mir ja nicht gebeichtet. Aber ich war von dieser ungewissen Situation nicht begeistert. Im Hinterland hat man sich mehr Gedanken gemacht als die Soldaten selbst."
   Während Anton Kittel und seine Wiener Kameraden Dr. Alfred Zankl und Ing. Franz Richter mehr oder weniger in den Tag hineinlebten und über den Sinn der Verschiebung des Regimentes nach Schlesien bei den Soldaten und ihren Angehörigen großes Rätselraten herrschte, veranstaltete der Generalstab in Berlin bereits "Ost-Kriegsspiele". Gleichzeitig mit den Kriegshandlungen am Balkan Anfang 1941 konstruierte man in den militärischen Hauptquartieren den "Plan Barbarossa" - Schon vor Weihnachten 1940 standen für die führenden Militärs die strategischen Grundzüge des Rußlandfeldzuges fest. Der Krieg sollte im Frühjahr beginnen und nach den Vorstellungen Adolf Hitlers, vor Winteranfang zu Ende sein.
   Das "Volk" wußte nichts davon, aber die ungewisse Situation erzeugte Nervösität. Valerie Kittel belastete zusätzlich die Unterdrückung der Gesinnungsgenossen und das immer gespenstischere Los der jüdischen Freunde.
   Die "Freundin aus Bregenz", von der Vally am 23. 9. 1940 einen Brief erhielt, Fanny Vobr, war Sozialistin und jüdischer Abkunft.
    Sie schrieb: "Als ich heute Deinen Brief bekam mit der Anschrift Fanny Spindler und dazu aus Wien, weißt Du, da stand die Zeit ein wenig still. Denn heute heiße ich nicht mehr Spindler, sondern Vobr ... Als unsere Meisterin, sie ist gleichzeitig auch die Frauenwalterin in unserem Betrieb, mir sagte, sie fahre auf 14 Tage nach Wien, da faßte ich plötzlich den Entschluß, mich durch sie nach Dir zu erkundigen. Und es ist geglückt. Dein Brief hat mich sehr gefreut, wie sehr, das kann ich Dir gar nicht sagen. Das Schönste von allem ist, daß Du noch immer gerne lernst. Das hat auch einen Teil meiner Scheu zurückgedämmt. Ich arbeite hier in der Breganzia Konservenfabrik Ludwig Hagen, bin sozusagen Betriebssekretärin, ein großes Wort für eine kleine Arbeit. Mein Chef ist Norddeutscher, ein Mann mit viel Tempo und Freude am Einsatz. Zuerst fiel mir der kaufmännische Beruf nicht leicht. Neue Begriffe und vor allem das ewige Feilschen, wir sind ja öfter Krämer als Kaufleute, mußte ich erst verarbeiten ... Was macht Deine ehemalige Kollegin? Ich möchte Dich so vieles fragen, aber alles auf einmal wird wohl nicht gehen. Ob ich nach Wien komme? Ich weiß es heute noch nicht. Ich muß ja auch für meinen Vater sorgen. Er hat 3 schwere Magenoperationen hinter sich und es geht jetzt etwas besser. Arbeiten kann er ja nicht aus gesundheitlichen und auch anderen Gründen. Aber ich bin ja da und es macht mich sehr glücklich, etwas für ihn tun zu können. Es ist auch schön, so einen Vater zu haben, mit dem man doch vieles besprechen kann, und Probleme, in denen wir früher sehr weit auseinandergingen, finden uns heute einig. Du mußt mir wieder schreiben, gelt. Weißt Du, man ist auch heute als Frau hier noch einsam. Du meinst sicher, es sei die alte Gefühlsduselei, vielleicht ist sie es auch, ich weiß es nicht, jedenfalls empfinde ich es so. Wahrscheinlich kommt es auch davon, weil ich nie eine Mutter gehabt habe, sie ist mir schon mit 5 Jahren gestorben. Verheiratet bin ich nicht, die Namensänderung hat einen anderen Grund.
   Alles Liebe und Gute und schreib mir bitte bald Deine Fi."

In einem Buch zur neueren Vorarlberger Landesgeschichte wird Fanny Vobr als Verbindungsfrau bei der Durchschleusung von Spanienkämpfern erwähnt. Vally hatte Fanny 1929 in Wien kennengelernt - wie viele Freunde über Vermittlung der Ehrlichs. Vally glaubt sich auch erinnern zu können, daß Fanny auf Empfehlung Dr. Otto Ehrlichs später Genossen über die österreichisch-schweizerische Grenze gebracht habe." Das war alles am Bodensee, da hat man die Leute in der Nacht auf Booten hinübergefahren, auch viele gefährdete Juden, die auswandern wollten", sagt Valerie Kittel.
   Auf jeden Fall hatte diese Hilfeleistung Fanny noch vor der Nazi-Zeit in ein KZ gebracht.
   Fannys Vater, Samuel Spindler, war rumänisch-jüdischer Herkunft, Arbeiterrat in Bregenz und nach Valeries Angaben Sekretär der Gewerkschaft der Vorarlberger Textilarbeiter gewesen. Sowohl er wie auch Fanny erlitten rassische und politische Verfolgung. Die Namensänderung von Spindler auf Vobr gehörte dazu. Vally: "Unter den Nazis hat sie den arischen Namen der Mutter annehmen müssen."
   Besondere Sorgen machte sich Valerie um Lola Stärk. Die Wohnungsprobleme der jüdischen Freunde, von denen in den Briefen die Rede ist, hatten ihren Grund in einem Gesetz über Mietsverhältnisse von Juden vom 4. 5. 1939. Dort liest man: "Der Grundgedanke der gesetzlichen Regelung besteht darin, daß die Juden in bestimmten Häusern - gegebenenfalls zwangsweise - zusammengefaßt werden sol!en." Bis zum 1. Juli 1941 wurden laut Gestapo zirka 3000 Juden in Wien in den 2. und 20. Bezirk umgesiedelt. Damals lebten in der Hauptstadt übrigens noch 53 208 Juden. Vordergründiges Ziel der Maßnahme war eine völlige Trennung von jüdischen und nichtjüdischen Bürgern. Im Hintergrund der Wohnungspolitik stand jedoch die Vorbereitung für die Konzentration der Juden in Gettos. Die Schaffung von Gettos, die Einsetzung von "Judenräten" und die Deportation aller Juden ins "Generalgouvemement" waren, als der Krieg im September 1939 ausbrach, noch "allgemeine Richtlinien für die Zukunft". Für die Wiener Juden wandelten sich diese Richtlinien ab Februar 1941 in dramatische Wirklichkeit.
   Die Betroffenen konnten den Ernst der Lage vorerst nicht völlig erfassen, denn erstens wurde er verschleiert, und zweitens kannte man in der Geschichte keine Vorläufer. Hans Reich erzählte Vally vor Weihnachten, er müsse "zum Arbeitsdienst" in den Osten. Der 90jährige Franz Paul erinnert sich, wie auch sein Freund, der Schriftsteller Peter Hammerschlag, die Bedrohung unterschätzte und zu ihm sagte: "Wir sitzen im gleichen Boot. Ihr müßt einrücken, wir müssen ausrücken, alles nach dem Osten, wir ins Arbeitslager und ihr zum Militär. "Hammerschlag starb 1942 im Vernichtungslager Auschwitz.
   Wenn Valerie Kittel am 8. Februar 1941 schreibt, sie habe von Lola und Olga und auch von anderer Seite "viele schreckliche Dinge" gehört, so handelte es sich dabei sicher um Gerüchte rund um den Plan der SS, bis zum Mai 10 000 Juden nach Polen abzuschieben. Er ist in einer Aktennotiz vom 1. Februar 1941 festgehalten. Die Auswahl sollte in den Händen von Eichmanns "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" liegen, deren Weisungen die Israelitische Kultusgemeinde durchzuführen habe. Die Juden sollten in "kleine Kreisstädte" angesiedelt werden.
    Alfred Rosenberg gab, so las man am 29. Marz 1941 im "Neuen Wiener Tagblatt", im Rundfunk von sich: "Für Deutschland ist die Judenfrage erst dann gelöst, wenn der letzte Jude den großdeutschen Raum verlassen hat."
   Ab Dezember 1939 trafen nach und nach insgesamt 600 000 Juden aus den im Kriegsverlauf annektierten Gebieten und 400 000 Juden aus dem "Reich" im Generalgouvemement ein.
   Mit Sicherheit ist anzunehmen, daß Vallys Freund, der Musikprofessor Hans Reich, unter den ersten 1000 Juden war, die am 15. Februar 1941 wahrscheinlich vom Aspangbahnhof in Wien ins Generalgouvemement verschleppt wurden. Der nächste Transport folgte im März,, dann stockte die Aktion wegen der politischen Situation auf dem Balkan.
   Ernst Holzfeind, der Mann von Valeries Freundin Grete Fiala-Holzfeind, die an der Ecke Plankengasse - Neuer Markt einen Modesalon führte, wurde ab Oktober 1940 als Lehrer in die polnische Kleinstadt Glowno südwestlich von Warschau geschickt. Aus der Distanz von mehr als 40 Jahren erzählt er heute jene Dinge, die Valerie Kittel damals so entsetzt haben.
   "In Glowno hatte ich die Aufgabe, für die wenigen deutschen Kinder eine deutsche Schule einzurichten, in einem Haus, das früher Juden gehört hat. Es gab ja im Generalgouvernement eine ganz eigenartige soziale Schichtung: Oben waren die Besetzer, also die reichsdeutschen Parteigenossen, dann Deutsche, so wie ich, die dorthin geschickt wurden, dann die Volksdeutschen, die schon immer dort gelebt hatten oder deutsche Verwandte hatten. Die haben sich gedrängt, Volksdeutsche zu sein, weil sie dann bessere Lebensmittelkarten bekommen haben. Die Juden waren in Glowno damals schon in einem Getto. Eigentlich war es eine Schrebergartensiedlung. Dort hat man die Juden, zirka ein Drlttel der Bevölkerung, hineingepfercht, oft 10, 15 in ein solches Häusl.
   Drei, vier Tage, nachdem ich dort war, habe ich in der Früh Schießereien gehört. Später habe ich erfahren: Einige Juden wollten ausbrechen. Eine ganz kleine Gruppe von vier Mann SS hatte dort die Aufgabe, das Getto zu bewachen.
   Einmal blieb mir meine Uhr stehen. Ein Uhrmacher aus dem Getto wurde mir geschickt, ein schäbig angezogener, großer alter Herr. Er stellte sich mit vielen Bücklingen vor, zwei, drei Tage später hat er mir die Uhr wieder gebracht. Nein, Geld darf er nicht nehmen. Ich hab ihm natürlich doch etwas gegeben.
   Einige Wochen später hab ich dort erlebt, wie man die Juden aus diesem Getto zusammengefangen und in das große Getto nach Warschau gebracht hat. Da hab ich gesehen, wie die Leute auf dem Marktplatz gestanden sind und zugeschaut haben, wie die Juden mit ihren Panjewagen gekommen sind. Der Judenrat hat das müssen selbst organisieren, selber bezahlen. Das waren erschütternde Bilder. Das wenige, was sie noch gehabt haben, ist auf die Pferdewagen geladen worden. Ein solches Bild habe ich vor mir: Da ist ein alter Jude, der nicht mehr gehen kann, den hat man zuerst auf einen Sessel gebunden und dann den Sessel auf den Wagen gebunden und so hat man ihn weggeführt. Alles nach Warschau. Und rundherum sind die Polen gestanden - und ehrlich gesagt - da haben viele gelacht."

   Holzfeind erzählt weiter: "Eines Tages bin ich nach der Schule essen gegangen, da sitzen im Hausflur zwei junge Männer, Hände auf dem Rücken. Der Chef von der Gendarmerie, der auch dort aß, war eigenartig verschlossen. Nach dem Essen sage ich zu ihm: '`Was ist denn los?' Er: 'Haben Sie nicht gesehen? Die jungen Leute, das sind Juden, die sind aus dem Warschauer Getto ausgebrochen. Ja' sagt er, 'und ich muß sie innerhalb von 24 Stunden erschießen.' Dabei war der Mann, obwohl Nazi, gläubiger Katholik. Am nächsten Tag frag ich ihn: '`Wie haben Sie das gelöst?' 'Bei unserer Gruppe ist auch einer von der SS', sagt er. Bei jeder Gendarmeriegruppe war ja so ein Sicherheitsmann, der hat die quasi bespitzelt. 'Den habe ich hinausgeschickt und einen Volksdeutschen, die haben das hinter dem Schuppen erledigt.'"
   Ernst Holzfeind stammt aus einer sozialistischen Familie und war von seiner pazifistischen Mutter stark beeinflußt. Holzfeind erhielt eine Lehrerausbildung nach den Ideen des Schulreformers Otto Glöckel, wollte jedoch seinen Plan, Hauptschullehrer für Geschichte und Deutsch zu werden, nicht verwirklichen, denn "mit diesen Fächern wollte ich weder unter den Schwarzen noch unter den Nazi unterrichten. Es war sogar als Volksschullehrer schwer. Ich war an einer Schule, wo sich, als Hitler gekommen ist, 5 Lehrer als Nazi herausstellten. Sie sind dann gekommen mit so großen Hakenkreuzen; es war eine kuriose Zeit, dieser März 38."
   Holzfeind beobachtete nicht nur, wie die Nazi mit Juden in Polen umgingen, sondern auch die Nazi-Politik an nichtjüdischen Polen. Nach der Eroberung Polens im Herbst 1939 wurde das Land geteilt; der westliche Teil wurde ins Reich eingegliedert, er sollte binnen zehn Jahren restlos "eingedeutscht" werden. 1939 waren aber nur 10 Prozent der Bevölkerung deutschsprachig. Alle Polen, zirka 7,8 Millionen nichtjüdische und etwa 700 000 jüdische, sollten in den anderen Teil, in das Generalgouvernement verjagt werden. Bis Anfang 1941 schob man bereits etwa 800 000 Polen in diese östlichen Gebiete ab. Eine andere ausgesiedelte Gruppe waren die Zwangsarbeiter, die man nach dem Westen, ins "Altreich", verschleppte.
   Holzfeind: "Glowno war voll polnischer Flüchtlinge. Vor allem Staatsangestellte, Lehrer, Richter, Ärzte. Erst hat man sie in die größeren Städte, dann in die kleineren transportiert und schließlich waren die auch voll. Da hat mir ein Pole erzählt, der etwas deutsch konnte, sie hätten gehört: 'Morgen ist Abtransport, ihr könnt 20 kg mitnehmen.´ Die SS ist dann irgendwo im Generalgouvernement einfach auf der Straße stehengeblieben, mitten auf dem Feld, und man sagte: 'In 15 Minuten darf niemand mehr da sein!' Ein Maschinengewehr wurde aufgestellt. '`Wer danach da ist wird erschossen.' Da sind die Leute schnell in alle möglichen Richtungen gerannt. Ich hab den Auftrag gehabt, denen, die deutsch lernen wollten, Unterricht zu geben. Wie sie sich durchgeschlagen haben, weiß ich nicht, aber anscheinend war die Solidarität so groß, daß es möglich war."
   Die Polen durften nur Volksschulen besuchen und sollten als Arbeiterpotential fiir die deutsche "Herrscherschicht" dienen. "In Glowno war eine Außenstelle des Arbeitsamtes. Die haben auch die Aufgabe gehabt, junge Polen für Zwangsarbeit zusammenzufangen. Normal haben sich die Polen ja versteckt, aber einmal war ein Begräbnis und plötzlich ist die SA mit einigen Wagen erschienen, hat die Leute umstellt, die jungen herausgesucht und - weg mit ihnen."
   Der Herbst 1940 brachte aber doch auch ein erfreuliches Ereignis; Robert Uhlir kam frei. Der Tagesrapport der Gestapo vom 11. bis 15. April 1941 verzeichnet in der Rubrik "Sozialdemokratische Bewegungen": Das Oberlandesgericht Wien hat bei der am 20. 11. 1940 durchgeführten Hauptverhandlung gegen die nachgenannten Personen wegen Vorbereitung des Hochverrats (Betätigung für die Sozialistische Arbeiterhilfe) folgende Urteile gefällt: ...Robert Uhlir: 1 Jahr 3 Monate Gefängnis.
Hilde Uhlir: "Das war soviel, wie er schon in Untersuchungshaft gewesen ist."
   Valerie Kittel hat den Prozeß am 20. November 1940 weder im Notizbuch noch in den Briefen erwähnt, erinnert sich aber: daß sie sich zur Verhandlung gewagt habe. Hilde Uhlir hat noch Einzelheiten im Gedächtnis. "Es sind ganz wenige freigekommen, viele mußten nach Dachau. Der Schmidl von der Gestapo hat gesagt; ,Ich habe verschiedene Möglichkeiten: ich kann Ihren Mann in ein KZ geben oder freilassen.' Hab ich gesagt: `Er ist ja schon bestraft, Sie müssen ihn ja freilassen.' Er: 'Das kann einige Tage dauern.' Da bin ich Tage hindurch in die Gestapo hinein, am Morzinplatz, und der Schmidl hat mir immer gesagt, er kommt in ein paar Stunden nach Haus. Und ich bin hier im Wohnzimmer gesessen, damit ich nicht einschlafe, und er ist nicht gekommen und in der Früh bin ich wieder hinein. Da hat mich meistens mein Schwiegervater begleitet und gesagt: 'Mach dir nicht zu viele Hoffnungen, daß er nach Hause kommt.' Hab ich gesagt: 'Du kannst überzeugt sein, er kommt, ich geb nicht Ruh, bis er nach Haus kommt.' Nach acht Tagen bin ich mit dem Kind hinein. Der Bub hat einen weißen gestrickten Gamaschenanzug angehabt, er ist dort herumgelaufen und hat sich beim Gitter schwarz gemacht. Da hör ich auf einmal die Stimme von meinem Mann: 'Das ist ja der Herbert!' Da kam der Schmidl mit meinem Mann daher, er hat uns beide in sein Büro gerufen und hat mir eine lange Predigt gehalten, ich sei quasi verantwortlich für ihn. Ich habe dafür zu sorgen, daß mein Mann mit niemandem zusammenkommt und sich nicht politisch betätigt. Und wie ich ihn nach Hause gebracht hab, hat er gleich von einem Telefonhütterl die Frau Kittel angerufen, und einige andere."
   Regimekritiker wurden nicht nur eingesperrt, auch die Vorstufen der Verfolgung waren nicht angenehm. Anny Jonak etwa, eine Bürokollegin Valeries aus der Zeit in der Mariahilfer Straße zwischen 1937 und 1939, war mit prominenten sozialistischen Genossen befreundet. "Aus dem Grund war sie gegen die Nazi eingestellt, und sie hat leider in ihren Äußerungen davon viel Gebrauch gemacht', erinnert sich Frau Kittel. "Ich habe ihr oft gesagt: ,Das hättest du jetzt nicht sagen sollen.' Dann ist sie aufgeflogen durch ihre Hamstertätigkeit. Sie hat auf dem Land eine Bekannte gehabt und Kartoffeln oder so etwas bekommen, vielleicht auch weitergegeben. Am Ende der Affäre hat man ihr nahegelegt, zu kündigen. Ich bin ja schon vorher, 1939, Knall und Fall vom gleichen Büro weggekommen und hab damals gar nicht gewußt, was der Anlaß war."
   Aus der angespannten und zermürbenden Alltagssituation, die noch dazu von immer größerem Mangel an Konsumgütern geprägt war - mit Beginn des Krieges hatte die Rationierung von Lebensmitteln, Kleidung usw. eingesetzt -, fand Valerie Kittel drei Auswege:
   Erstens die Hinwendung zur Geschichte. Franz Senghofer, der Gewerkschafter und Bekannte von Valerie: "Das haben viele gemacht, die haben sich in die Vergangenheit geflüchtet und haben die Probleme von Macht und Überwindung der Macht aus der Konfrontation mit der Geschichte fur sich lebendig gemacht." Er selbst vertiefte sich in die römische Geschichte.
   Der zweite Ausweg war die Hinwendung zu Gott. "Im Krieg, in der größten Not hab ich mir angewöhnt, jeden Abend zu beten." Mit etwas verlegenem Lächeln berichtet Valerie Kittel: "Da hab ich mich sogar neben das Bett gekniet und da hab ich vier Leute gehabt, für die hab ich jeden Tag gebetet: für meinen Mann, für Fanny, für die Lola und für einen Kollegen aus der Kasse, der in Wien als Unterseeboot gelebt hat. Die Menschen waren so furchtbar gefährdet und man hat nichts für sie tun können. Da hat man halt nach irgendeinem Ausweg gesucht."
   Vorher hatte zur Kirche wenig Beziehung bestanden. Als Kind hatte Valerie kurze Zeit davon geträumt, Nonne zu werden. 1927 trat sie aus der Kirche aus, mußte aber 1934, wie alle Angestellten öffentlicher Körperschaften, den Nachweis einer Religionszugehörigkeit erbringen. "Bei der katholischen Pfarrkanzlei haben sie mich nicht genommen, weil ich mit einem Mann zusammengelebt hab, mit dem ich nicht verheiratet war. Da bin ich zur evangelischen Kirche gegangen."
   Die politische Aversion gegen die katholische Kirche ist ihr bis heute geblieben, unter Schicksalsschlägen sucht sie aber noch immer, wie man es ihr als Kind eingeprägt hat, Zuflucht beim "lieben Gott'.
   Ein dritter Ausweg aus dem Kriegsdilemma, ein Lichtblick in der bedrückenden Situation, schien für Vally in den Jahren 1940 und 1941 plötzlich ein Kind zu sein.
   1936 hatte sie abgetrieben. "Abtreibung war damals überhaupt ein Allgemeinthema unter Frauen. Natürlich war Abtreibung streng verboten und man hat von Glück reden müssen, wenn man eine diesbezügliche Verbindung gehabt hat."
   Über den Wunsch nach einem Kind, der so intensiv aus den Briefen spricht, äußert sich Valerie Kittel heute sehr zurückhaltend: "Das war damals auch die Umgebung, die war danach eingestellt. Viele Frauen haben das genützt. Man hatte das Gefühl, man wird dann gefördert und besonders unterstützt. Für mich hätte sich mit einem Kind das ganze Schicksal anders gestaltet. Man muß sich das nur vorstellen, ich hätte nicht in der Kasse bleiben können!"
   Jm Frühjahr 1941 allerdings war sie vom heißen Wunsch nach einem Kind erfüllt. Auch der Besuch bei Toni in Münsterberg stand im Zeichen dieser Hoffnung. Sie erinnert sich heute so an den Aufenthalt in dem schlesischen Städtchen: "Es war eine gute, angenehme Stimmung. Der eine Krieg hatte sozusagen ein Ende. Von dem anderen hat man noch nichts gewußt. Die Leute, die dort lebten, die haben überhaupt gedacht, jetzt kommen die herrlichsten Zeiten."


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