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"Ich habe das Gefühl
gehabt, daß er dort sein Leben mit Nichtstun verbringt und das ist
für Männer nicht sehr angebracht, überhaupt, wenn die Frau ein
bißl aufpassen will", kommentiert Valerie Kittel meine Vermutung, es habe
in der Münsterberger Zeit zwischen dem Ehepaar Unstimmigkeiten gegeben.
Viele durchgestrichene Stellen in den Originalbriefen, abgeschnittene
Briefseiten und einige für diese Publikation neu abgeschriebene Briefe
haben mich auf diese Idee gebracht. Vally: "Ich mußte ihn von Wien aus
bei guter Laune halten und war selbst nicht gut gelaunt." Auf meinen Einwand,
ihrem Mann habe es in Münsterberg doch anscheinend recht gut gefallen,
lacht sie herzlich: "Naja, die haben dort viel Zeit gehabt und sich
vergnügt. Alles hat er mir ja nicht gebeichtet. Aber ich war von dieser
ungewissen Situation nicht begeistert. Im Hinterland hat man sich mehr Gedanken
gemacht als die Soldaten selbst." Während Anton
Kittel und seine Wiener Kameraden Dr. Alfred Zankl und Ing. Franz Richter mehr
oder weniger in den Tag hineinlebten und über den Sinn der Verschiebung
des Regimentes nach Schlesien bei den Soldaten und ihren Angehörigen
großes Rätselraten herrschte, veranstaltete der Generalstab in
Berlin bereits "Ost-Kriegsspiele". Gleichzeitig mit den Kriegshandlungen am
Balkan Anfang 1941 konstruierte man in den militärischen Hauptquartieren
den "Plan Barbarossa" - Schon vor Weihnachten 1940 standen für die
führenden Militärs die strategischen Grundzüge des
Rußlandfeldzuges fest. Der Krieg sollte im Frühjahr beginnen und
nach den Vorstellungen Adolf Hitlers, vor Winteranfang zu Ende sein.
Das "Volk" wußte nichts davon, aber die ungewisse
Situation erzeugte Nervösität. Valerie Kittel belastete
zusätzlich die Unterdrückung der Gesinnungsgenossen und das immer
gespenstischere Los der jüdischen Freunde. Die
"Freundin aus Bregenz", von der Vally am 23. 9. 1940 einen Brief erhielt, Fanny
Vobr, war Sozialistin und jüdischer Abkunft.
Sie schrieb: "Als
ich heute Deinen Brief bekam mit der Anschrift Fanny Spindler und dazu aus
Wien, weißt Du, da stand die Zeit ein wenig still. Denn heute heiße
ich nicht mehr Spindler, sondern Vobr ... Als unsere Meisterin, sie ist
gleichzeitig auch die Frauenwalterin in unserem Betrieb, mir sagte, sie fahre
auf 14 Tage nach Wien, da faßte ich plötzlich den Entschluß,
mich durch sie nach Dir zu erkundigen. Und es ist geglückt. Dein Brief hat
mich sehr gefreut, wie sehr, das kann ich Dir gar nicht sagen. Das
Schönste von allem ist, daß Du noch immer gerne lernst. Das hat auch
einen Teil meiner Scheu zurückgedämmt. Ich arbeite hier in der
Breganzia Konservenfabrik Ludwig Hagen, bin sozusagen Betriebssekretärin,
ein großes Wort für eine kleine Arbeit. Mein Chef ist Norddeutscher,
ein Mann mit viel Tempo und Freude am Einsatz. Zuerst fiel mir der
kaufmännische Beruf nicht leicht. Neue Begriffe und vor allem das ewige
Feilschen, wir sind ja öfter Krämer als Kaufleute, mußte ich
erst verarbeiten ... Was macht Deine ehemalige Kollegin? Ich möchte Dich
so vieles fragen, aber alles auf einmal wird wohl nicht gehen. Ob ich nach Wien
komme? Ich weiß es heute noch nicht. Ich muß ja auch für
meinen Vater sorgen. Er hat 3 schwere Magenoperationen hinter sich und es geht
jetzt etwas besser. Arbeiten kann er ja nicht aus gesundheitlichen und auch
anderen Gründen. Aber ich bin ja da und es macht mich sehr glücklich,
etwas für ihn tun zu können. Es ist auch schön, so einen Vater
zu haben, mit dem man doch vieles besprechen kann, und Probleme, in denen wir
früher sehr weit auseinandergingen, finden uns heute einig. Du mußt
mir wieder schreiben, gelt. Weißt Du, man ist auch heute als Frau hier
noch einsam. Du meinst sicher, es sei die alte Gefühlsduselei, vielleicht
ist sie es auch, ich weiß es nicht, jedenfalls empfinde ich es so.
Wahrscheinlich kommt es auch davon, weil ich nie eine Mutter gehabt habe, sie
ist mir schon mit 5 Jahren gestorben. Verheiratet bin ich nicht, die
Namensänderung hat einen anderen Grund. Alles Liebe
und Gute und schreib mir bitte bald Deine Fi."
In einem Buch zur neueren
Vorarlberger
Landesgeschichte wird Fanny Vobr als Verbindungsfrau bei der
Durchschleusung von Spanienkämpfern erwähnt. Vally hatte Fanny 1929
in Wien kennengelernt - wie viele Freunde über Vermittlung der Ehrlichs.
Vally glaubt sich auch erinnern zu können, daß Fanny auf Empfehlung
Dr. Otto Ehrlichs später Genossen über die
österreichisch-schweizerische Grenze gebracht habe." Das war alles am
Bodensee, da hat man die Leute in der Nacht auf Booten hinübergefahren,
auch viele gefährdete Juden, die auswandern wollten", sagt Valerie Kittel.
Auf jeden Fall hatte diese Hilfeleistung Fanny noch vor
der Nazi-Zeit in ein KZ gebracht. Fannys Vater, Samuel
Spindler, war rumänisch-jüdischer Herkunft, Arbeiterrat in Bregenz
und nach Valeries Angaben Sekretär der Gewerkschaft der Vorarlberger
Textilarbeiter gewesen. Sowohl er wie auch Fanny erlitten rassische und
politische Verfolgung. Die Namensänderung von Spindler auf Vobr
gehörte dazu. Vally: "Unter den Nazis hat sie den arischen Namen der
Mutter annehmen müssen." Besondere Sorgen machte
sich Valerie um Lola Stärk. Die Wohnungsprobleme der jüdischen
Freunde, von denen in den Briefen die Rede ist, hatten ihren Grund in einem
Gesetz über
Mietsverhältnisse von Juden vom 4. 5. 1939. Dort liest man: "Der
Grundgedanke der gesetzlichen Regelung besteht darin, daß die Juden in
bestimmten Häusern - gegebenenfalls zwangsweise - zusammengefaßt
werden sol!en." Bis zum 1. Juli 1941 wurden laut Gestapo zirka 3000 Juden in
Wien in den 2. und 20. Bezirk umgesiedelt. Damals lebten in der Hauptstadt
übrigens noch 53 208 Juden. Vordergründiges Ziel der Maßnahme
war eine völlige Trennung von jüdischen und nichtjüdischen
Bürgern. Im Hintergrund der Wohnungspolitik stand jedoch die Vorbereitung
für die Konzentration der Juden in
Gettos. Die
Schaffung von Gettos, die Einsetzung von "Judenräten" und die Deportation
aller Juden ins "Generalgouvemement" waren, als der Krieg im September 1939
ausbrach, noch "allgemeine Richtlinien für die Zukunft". Für die
Wiener Juden wandelten sich diese Richtlinien ab Februar 1941 in dramatische
Wirklichkeit. Die Betroffenen konnten den Ernst der Lage
vorerst nicht völlig erfassen, denn erstens wurde er verschleiert, und
zweitens kannte man in der Geschichte keine Vorläufer. Hans Reich
erzählte Vally vor Weihnachten, er müsse "zum Arbeitsdienst" in den
Osten. Der 90jährige Franz Paul erinnert sich, wie auch sein Freund, der
Schriftsteller Peter Hammerschlag, die Bedrohung unterschätzte und zu ihm
sagte: "Wir sitzen im gleichen Boot. Ihr müßt einrücken, wir
müssen ausrücken, alles nach dem Osten, wir ins Arbeitslager und ihr
zum Militär. "Hammerschlag starb 1942 im Vernichtungslager Auschwitz.
Wenn Valerie Kittel am 8. Februar 1941 schreibt, sie habe
von Lola und Olga und auch von anderer Seite "viele schreckliche Dinge"
gehört, so handelte es sich dabei sicher um Gerüchte rund um den Plan
der SS, bis zum Mai 10 000
Juden nach Polen
abzuschieben. Er ist in einer Aktennotiz vom 1. Februar 1941 festgehalten.
Die Auswahl sollte in den Händen von Eichmanns "Zentralstelle für
jüdische Auswanderung" liegen, deren Weisungen die Israelitische
Kultusgemeinde durchzuführen habe. Die Juden sollten in "kleine
Kreisstädte" angesiedelt werden.
Alfred Rosenberg
gab, so las man am 29. Marz 1941 im "Neuen Wiener Tagblatt", im
Rundfunk von sich:
"Für Deutschland ist die Judenfrage erst dann gelöst, wenn der letzte
Jude den großdeutschen Raum verlassen hat." Ab
Dezember 1939 trafen nach und nach insgesamt
600 000 Juden aus
den im Kriegsverlauf annektierten Gebieten und 400 000 Juden aus dem "Reich" im
Generalgouvemement ein. Mit Sicherheit ist anzunehmen,
daß Vallys Freund, der Musikprofessor Hans Reich, unter den ersten 1000
Juden war, die am 15. Februar 1941 wahrscheinlich vom Aspangbahnhof in Wien ins
Generalgouvemement verschleppt wurden. Der nächste Transport folgte im
März,, dann stockte die Aktion wegen der politischen Situation auf dem
Balkan. Ernst Holzfeind, der Mann von Valeries Freundin
Grete Fiala-Holzfeind, die an der Ecke Plankengasse - Neuer Markt einen
Modesalon führte, wurde ab Oktober 1940 als Lehrer in die polnische
Kleinstadt Glowno südwestlich von Warschau geschickt. Aus der Distanz von
mehr als 40 Jahren erzählt er heute jene Dinge, die Valerie Kittel damals
so entsetzt haben. "In Glowno hatte ich die Aufgabe,
für die wenigen deutschen Kinder eine deutsche Schule einzurichten, in
einem Haus, das früher Juden gehört hat. Es gab ja im
Generalgouvernement eine ganz eigenartige soziale Schichtung: Oben waren die
Besetzer, also die reichsdeutschen Parteigenossen, dann Deutsche, so wie ich,
die dorthin geschickt wurden, dann die Volksdeutschen, die schon immer dort
gelebt hatten oder deutsche Verwandte hatten. Die haben sich gedrängt,
Volksdeutsche zu sein, weil sie dann bessere Lebensmittelkarten bekommen haben.
Die Juden waren in Glowno damals schon in einem Getto. Eigentlich war es eine
Schrebergartensiedlung. Dort hat man die Juden, zirka ein Drlttel der
Bevölkerung, hineingepfercht, oft 10, 15 in ein solches Häusl.
Drei, vier Tage, nachdem ich dort war, habe ich in der
Früh Schießereien gehört. Später habe ich erfahren: Einige
Juden wollten ausbrechen. Eine ganz kleine Gruppe von vier Mann SS hatte dort
die Aufgabe, das Getto zu bewachen. Einmal blieb mir
meine Uhr stehen. Ein Uhrmacher aus dem Getto wurde mir geschickt, ein
schäbig angezogener, großer alter Herr. Er stellte sich mit vielen
Bücklingen vor, zwei, drei Tage später hat er mir die Uhr wieder
gebracht. Nein, Geld darf er nicht nehmen. Ich hab ihm natürlich doch
etwas gegeben. Einige Wochen später hab ich dort
erlebt, wie man die Juden aus diesem Getto zusammengefangen und in das
große Getto nach Warschau gebracht hat. Da hab ich gesehen, wie die Leute
auf dem Marktplatz gestanden sind und zugeschaut haben, wie die Juden mit ihren
Panjewagen gekommen sind. Der Judenrat hat das müssen selbst organisieren,
selber bezahlen. Das waren erschütternde Bilder. Das wenige, was sie noch
gehabt haben, ist auf die Pferdewagen geladen worden. Ein solches Bild habe ich
vor mir: Da ist ein alter Jude, der nicht mehr gehen kann, den hat man zuerst
auf einen Sessel gebunden und dann den Sessel auf den Wagen gebunden und so hat
man ihn weggeführt. Alles nach Warschau. Und rundherum sind die Polen
gestanden - und ehrlich gesagt - da haben viele gelacht."
Holzfeind erzählt weiter: "Eines Tages bin ich
nach der Schule essen gegangen, da sitzen im Hausflur zwei junge Männer,
Hände auf dem Rücken. Der Chef von der Gendarmerie, der auch dort
aß, war eigenartig verschlossen. Nach dem Essen sage ich zu ihm: '`Was
ist denn los?' Er: 'Haben Sie nicht gesehen? Die jungen Leute, das sind Juden,
die sind aus dem Warschauer Getto ausgebrochen. Ja' sagt er, 'und ich muß
sie innerhalb von 24 Stunden erschießen.' Dabei war der Mann, obwohl
Nazi, gläubiger Katholik. Am nächsten Tag frag ich ihn: '`Wie haben
Sie das gelöst?' 'Bei unserer Gruppe ist auch einer von der SS', sagt er.
Bei jeder Gendarmeriegruppe war ja so ein Sicherheitsmann, der hat die quasi
bespitzelt. 'Den habe ich hinausgeschickt und einen Volksdeutschen, die haben
das hinter dem Schuppen erledigt.'" Ernst Holzfeind
stammt aus einer sozialistischen Familie und war von seiner pazifistischen
Mutter stark beeinflußt. Holzfeind erhielt eine Lehrerausbildung nach den
Ideen des Schulreformers Otto Glöckel, wollte jedoch seinen Plan,
Hauptschullehrer für Geschichte und Deutsch zu werden, nicht
verwirklichen, denn "mit diesen Fächern wollte ich weder unter den
Schwarzen noch unter den Nazi unterrichten. Es war sogar als Volksschullehrer
schwer. Ich war an einer Schule, wo sich, als Hitler gekommen ist, 5 Lehrer als
Nazi herausstellten. Sie sind dann gekommen mit so großen Hakenkreuzen;
es war eine kuriose Zeit, dieser März 38." Holzfeind
beobachtete nicht nur, wie die Nazi mit Juden in Polen umgingen, sondern auch
die Nazi-Politik
an nichtjüdischen Polen. Nach der Eroberung Polens im Herbst 1939
wurde das Land geteilt; der westliche Teil wurde ins Reich eingegliedert, er
sollte binnen zehn Jahren restlos "eingedeutscht" werden. 1939 waren aber nur
10 Prozent der Bevölkerung deutschsprachig. Alle Polen, zirka 7,8
Millionen nichtjüdische und etwa 700 000 jüdische, sollten in
den anderen Teil, in das Generalgouvernement verjagt werden. Bis Anfang 1941
schob man bereits etwa 800 000 Polen in diese östlichen Gebiete ab.
Eine andere ausgesiedelte Gruppe waren die Zwangsarbeiter, die man nach dem
Westen, ins "Altreich", verschleppte. Holzfeind: "Glowno
war voll polnischer Flüchtlinge. Vor allem Staatsangestellte, Lehrer,
Richter, Ärzte. Erst hat man sie in die größeren Städte,
dann in die kleineren transportiert und schließlich waren die auch voll.
Da hat mir ein Pole erzählt, der etwas deutsch konnte, sie hätten
gehört: 'Morgen ist Abtransport, ihr könnt 20 kg mitnehmen.´
Die SS ist dann irgendwo im Generalgouvernement einfach auf der Straße
stehengeblieben, mitten auf dem Feld, und man sagte: 'In 15 Minuten darf
niemand mehr da sein!' Ein Maschinengewehr wurde aufgestellt. '`Wer danach da
ist wird erschossen.' Da sind die Leute schnell in alle möglichen
Richtungen gerannt. Ich hab den Auftrag gehabt, denen, die deutsch lernen
wollten, Unterricht zu geben. Wie sie sich durchgeschlagen haben, weiß
ich nicht, aber anscheinend war die Solidarität so groß, daß
es möglich war." Die Polen durften nur Volksschulen
besuchen und sollten als Arbeiterpotential fiir die deutsche "Herrscherschicht"
dienen. "In Glowno war eine Außenstelle des Arbeitsamtes. Die haben auch
die Aufgabe gehabt, junge Polen für Zwangsarbeit zusammenzufangen. Normal
haben sich die Polen ja versteckt, aber einmal war ein Begräbnis und
plötzlich ist die SA mit einigen Wagen erschienen, hat die Leute umstellt,
die jungen herausgesucht und - weg mit ihnen." Der Herbst
1940 brachte aber doch auch ein erfreuliches Ereignis; Robert Uhlir kam frei.
Der Tagesrapport der
Gestapo vom 11. bis 15. April 1941 verzeichnet in der Rubrik
"Sozialdemokratische Bewegungen": Das Oberlandesgericht Wien hat bei der am 20.
11. 1940 durchgeführten Hauptverhandlung gegen die nachgenannten Personen
wegen Vorbereitung des Hochverrats (Betätigung für die Sozialistische
Arbeiterhilfe) folgende Urteile gefällt: ...Robert Uhlir: 1 Jahr 3 Monate
Gefängnis. Hilde Uhlir: "Das war soviel, wie er schon in
Untersuchungshaft gewesen ist." Valerie Kittel hat den
Prozeß am 20. November 1940 weder im Notizbuch noch in den Briefen
erwähnt, erinnert sich aber: daß sie sich zur Verhandlung gewagt
habe. Hilde Uhlir hat noch Einzelheiten im Gedächtnis. "Es sind ganz
wenige freigekommen, viele mußten nach Dachau. Der Schmidl von der
Gestapo hat gesagt; ,Ich habe verschiedene Möglichkeiten: ich kann Ihren
Mann in ein KZ geben oder freilassen.' Hab ich gesagt: `Er ist ja schon
bestraft, Sie müssen ihn ja freilassen.' Er: 'Das kann einige Tage
dauern.' Da bin ich Tage hindurch in die Gestapo hinein, am Morzinplatz, und
der Schmidl hat mir immer gesagt, er kommt in ein paar Stunden nach Haus. Und
ich bin hier im Wohnzimmer gesessen, damit ich nicht einschlafe, und er ist
nicht gekommen und in der Früh bin ich wieder hinein. Da hat mich meistens
mein Schwiegervater begleitet und gesagt: 'Mach dir nicht zu viele Hoffnungen,
daß er nach Hause kommt.' Hab ich gesagt: 'Du kannst überzeugt sein,
er kommt, ich geb nicht Ruh, bis er nach Haus kommt.' Nach acht Tagen bin ich
mit dem Kind hinein. Der Bub hat einen weißen gestrickten Gamaschenanzug
angehabt, er ist dort herumgelaufen und hat sich beim Gitter schwarz gemacht.
Da hör ich auf einmal die Stimme von meinem Mann: 'Das ist ja der
Herbert!' Da kam der Schmidl mit meinem Mann daher, er hat uns beide in sein
Büro gerufen und hat mir eine lange Predigt gehalten, ich sei quasi
verantwortlich für ihn. Ich habe dafür zu sorgen, daß mein Mann
mit niemandem zusammenkommt und sich nicht politisch betätigt. Und wie ich
ihn nach Hause gebracht hab, hat er gleich von einem Telefonhütterl die
Frau Kittel angerufen, und einige andere." Regimekritiker
wurden nicht nur eingesperrt, auch die Vorstufen der Verfolgung waren nicht
angenehm. Anny Jonak etwa, eine Bürokollegin Valeries aus der Zeit in der
Mariahilfer Straße zwischen 1937 und 1939, war mit prominenten
sozialistischen Genossen befreundet. "Aus dem Grund war sie gegen die Nazi
eingestellt, und sie hat leider in ihren Äußerungen davon viel
Gebrauch gemacht', erinnert sich Frau Kittel. "Ich habe ihr oft gesagt: ,Das
hättest du jetzt nicht sagen sollen.' Dann ist sie aufgeflogen durch ihre
Hamstertätigkeit. Sie hat auf dem Land eine Bekannte gehabt und Kartoffeln
oder so etwas bekommen, vielleicht auch weitergegeben. Am Ende der Affäre
hat man ihr nahegelegt, zu kündigen. Ich bin ja schon vorher, 1939, Knall
und Fall vom gleichen Büro weggekommen und hab damals gar nicht
gewußt, was der Anlaß war." Aus der
angespannten und zermürbenden Alltagssituation, die noch dazu von immer
größerem Mangel an Konsumgütern geprägt war - mit Beginn
des Krieges hatte die Rationierung von Lebensmitteln, Kleidung usw. eingesetzt
-, fand Valerie Kittel drei Auswege: Erstens die
Hinwendung zur Geschichte. Franz Senghofer, der Gewerkschafter und Bekannte von
Valerie: "Das haben viele gemacht, die haben sich in die Vergangenheit
geflüchtet und haben die Probleme von Macht und Überwindung der Macht
aus der Konfrontation mit der Geschichte fur sich lebendig gemacht." Er selbst
vertiefte sich in die römische Geschichte. Der
zweite Ausweg war die Hinwendung zu Gott. "Im Krieg, in der größten
Not hab ich mir angewöhnt, jeden Abend zu beten." Mit etwas verlegenem
Lächeln berichtet Valerie Kittel: "Da hab ich mich sogar neben das Bett
gekniet und da hab ich vier Leute gehabt, für die hab ich jeden Tag
gebetet: für meinen Mann, für Fanny, für die Lola und für
einen Kollegen aus der Kasse, der in Wien als
Unterseeboot
gelebt hat. Die Menschen waren so furchtbar gefährdet und man hat nichts
für sie tun können. Da hat man halt nach irgendeinem Ausweg gesucht."
Vorher hatte zur Kirche wenig Beziehung bestanden. Als
Kind hatte Valerie kurze Zeit davon geträumt, Nonne zu werden. 1927 trat
sie aus der Kirche aus, mußte aber 1934, wie alle Angestellten
öffentlicher Körperschaften, den Nachweis einer
Religionszugehörigkeit erbringen. "Bei der katholischen Pfarrkanzlei haben
sie mich nicht genommen, weil ich mit einem Mann zusammengelebt hab, mit dem
ich nicht verheiratet war. Da bin ich zur evangelischen Kirche gegangen."
Die politische Aversion gegen die katholische Kirche ist
ihr bis heute geblieben, unter Schicksalsschlägen sucht sie aber noch
immer, wie man es ihr als Kind eingeprägt hat, Zuflucht beim "lieben
Gott'. Ein dritter Ausweg aus dem Kriegsdilemma, ein
Lichtblick in der bedrückenden Situation, schien für Vally in den
Jahren 1940 und 1941 plötzlich ein Kind zu sein.
1936 hatte sie abgetrieben. "Abtreibung war damals
überhaupt ein Allgemeinthema unter Frauen. Natürlich war Abtreibung
streng verboten und man hat von Glück reden müssen, wenn man eine
diesbezügliche Verbindung gehabt hat." Über den
Wunsch nach einem Kind, der so intensiv aus den Briefen spricht,
äußert sich Valerie Kittel heute sehr zurückhaltend: "Das war
damals auch die Umgebung, die war danach eingestellt. Viele Frauen haben das
genützt. Man hatte das Gefühl, man wird dann gefördert und
besonders unterstützt. Für mich hätte sich mit einem Kind das
ganze Schicksal anders gestaltet. Man muß sich das nur vorstellen, ich
hätte nicht in der Kasse bleiben können!" Jm
Frühjahr 1941 allerdings war sie vom heißen Wunsch nach einem Kind
erfüllt. Auch der Besuch bei
Toni in
Münsterberg stand im Zeichen dieser Hoffnung. Sie erinnert sich heute
so an den Aufenthalt in dem schlesischen Städtchen: "Es war eine gute,
angenehme Stimmung. Der eine Krieg hatte sozusagen ein Ende. Von dem anderen
hat man noch nichts gewußt. Die Leute, die dort lebten, die haben
überhaupt gedacht, jetzt kommen die herrlichsten Zeiten."
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