ZEITZEUGE 1:
KRIEGSKAMERAD FRANZ RICHTER



"Ich wurde mit 20 Jahren im Herbst 1940 einberufen. Ich bin dem Feldtruppenteil, der aus dem Frankreichfeldzug zurückkam, nach Münsterberg zugeteilt worden. Die stärkste Bezugsperson in meiner Erinnerung ist ein gewisser Oberleutnant Wilkens. Er war Kompaniechef, ein preußischer Offizierstyp, er ist gefallen. Er hat das ganze als reines Schachspiel betrachtet, mit totaler Verachtung der Hitler-Plebs. Er hat sich in den Dreck geworfen mit uns. Es war alles für ihn, wenn Sie wollen, eine Etüde der Selbstüberwindung. Das Wort Feind gab es für ihn natürlich nicht. Wir wußten ja gar nicht, wer der Gegner ist. Wozu wir da schießen und was wir da sollen, das wußte niemand. Der Gegner war eine Pappfigur ohne Charakterzug. Es bestand doch der Vertrag mit Stalin. Es war eine mysteriöse Situation, die diesem personalen Heroismus sehr dienlich war.
Ich hab einmal an einem Abend ein langes Witzgedicht geschrieben und habe dafür einen Sonderurlaub nach Breslau bekommen. Ich habe Breslau von damals erlebt: die Hallenkirchen, die unerhörte Architektur. Es war ein sozusagen konsequent vom Bürgertum durchformtes Stadtbewußtsein ... Nie wieder möchte ich es sehen!
Ja, da war also der Wilkens und dann war da der Zankl! Ich war Chemiestudent und wurde von ihm als Bataillons-Schreiber angefordert. Was für eine Protektion da im Hintergrund war - ich werde es nie erfahren. Ich konnte nämlich ganz miserabel Maschinschreiben, war also ein unfähiger Bürosklave. Er war der perfekte Bürokrat, der mit Umsicht immer mehr Schreibarbeiten heranzieht. Wie kann ich die Menschen retten, jetzt in dieser Hilflosigkeit? Durch Papier. Also, es sollten möglichst wenig fallen und soviel geschrieben werden wie nur geht. Der Zankl hatte etwas von dieser Einstellung. Ein großartiger Jurist, ein hochintellektueller Mensch. Er hat diesen, wenn Sie wollen, formalistischen Widerstand gebracht, der durch die Verwandlung des Verbrechens in einen Akt, in einen Papierakt, besteht. Der Zankl war absolut gegen das System, völlig."
Frage: Wie merkte man das? War Zankl nicht Parteigenosse? Sprach man darüber?
"Nein. Es gibt doch Gott sei Dank noch eine Privatzone. Verstehen Sie, es existierte zwar ein öffentliches Ritual, doch was ich mir bei dem Ritual denke...! Es gab auch eine Abstinenz von Politischem. Ich hab in Münsterberg mit einer Krankenschwester, mit der ich befreundet war, hauptsächlich über Rilke gesprochen. Man hat sich nicht völlig identifiziert mit dem System. Auch der Zankl hat sich nicht völlig identifiziert.
Konspirieren gegen das System war sowieso sinnlos. Ich konnte auftreten für den Führer oder denken: 'Rutsch mir den Buckel runter!' Ich war Gefangener, ich war Sklave. Es gab solche, die mitmachten, ihren Intellekt dem System zur Verfügung stellten, und solche, die sich enthielten, die abseits standen.
Sehen Sie, das mit den Juden, die Brachialgewalt, das Spitzelwesen, die Enthemmung der nationalen Presse, das ist eine ungeheuerliche Macht. Wenn ich sage, daß im Kommunismus - ich war fünf Jahre in russischer Gefangenschaft, von 1945 bis 1950 - die Minorität des Geistes genügt, damit das Hochstehende überdauert, so genügte im Nationalsozialismus eine Minorität von Brutalität, um zu vernichten. Und das ist geschehen."
Frage: Hat man darunter gelitten?
"Na, was heißt! Darum sitz ich ja mit Ihnen da. Ich war sehr stark geprägt von einer jüdischen Familie. Am 13. März 1938 war ich allein im Wienerwald und habe sozusagen Tränen geweint. Damals in Münsterberg habe ich mir bereits im November oder Dezember des Jahres 1940 eine russische Grammatik beschafft. Die Alternative der Vertragsbrüchigkeit mit der Sowjetunion, die war mir intuitiv klar und ich als Ausgelieferter, als Soldat, hatte überhaupt keine andere Chance meiner privaten Schicksalsverbesserung, als zunächst einmal des nicht eingestandenen Feindes Sprache zu lernen."
Frage: Erinnern Sie sich an Anton Kittel?
"Ich habe ihn als diesen Mann, zirka 1,85 groß, eher kräftig, korpulent, Wiener mit einer sonoren Stimme in Erinnerung. War er ein Bridgespieler? In guter Erinnerung habe ich die Wirtin im Hotel Rautenkranz, eine gewisse Mimi Pollak. Sie war dort das matriarchalische Element."
Frage: Aus den Briefen Kittels hat man den Eindruck, man wußte nicht recht, wie man die Soldaten die Wartezeit sinnvoll überbrücken lassen sollte.
"Die haben uns ganz gewaltig beschäftigt, Nachtarbeit, das war Ehrensache. Diese ganze Scheinwelt - man hat die Listen zehnmal geschrieben, weil ein Tippfehler drauf war! Im Winter gab's Truppenübungen, im Freien, achtzehn Stunden. Das war schon auslastend. Abends - die alten Zarah Leander-Filme, die sah ich dort. Ich war nie im Kino außer in dieser Zeit. Ein Dünnbier irgendwo noch zum Trinken und aus war der Tag."
Frage: Wie reagierte die Bevölkerung?
"Sehr, sehr entgegenkommend. Für dieses kleine Stadterl in Schlesien war das auch ein Geschäft. Die Privatquartiere waren natürlich ein zusätzliches Einkommen. Das war sicher freiwillig, eine Umfrage, wer die Soldaten nehmen will. Aber ich erinnere mich an wunderschöne Bettwäsche, Untertuchent, Obertuchent, also Großmutter-Ansprüche, wie wir es uns heute nicht mehr vorstellen können.
So ging das bis März. Dann kam der Aufbruch. Der Abschied von Münsterberg, das war etwas ganz Tiefgehendes. Diese Truppe war dort sieben Monate, es kam sicher zu den verschiedensten Verhältnissen, unter diesen Vorzeichen war das ganz anders zu sehen als ein hiesiger Ehebruch. Eine ganz neue moralische Grundierung für das Sexualverhalten. Das brach jetzt auf, spürbar, und ich als junger Mensch war wahrscheinlich besonders sensibilisiert dafür."
Frage: Der Bruch zwischen dem ,Phantomheroismus' in Münsterberg und der Realität in Polen muß grausam gewesen sein.
"Ein sehr bedrückendes Erlebnis, immer mehr Trauermarsch. Jetzt, mit Annäherung an die russische Grenze, war das wie Sozialtourismus mit Bomben und Kanonen. Es war für mich, wenn Sie wollen, eine große Wallfahrt, eine Pilgerfahrt ins Golgatha des slawischen Menschen hinein. Immer noch mit der Hoffnung, diese Hoffnung hatten wir ehrlich, daß der Kommunismus im Inneren zusammenbricht.
Frage: Ich frage Sie jetzt nicht nach dem Kommunismus, sondern zur deutschen Politik damals in Polen.
"Davon hab ich nur das Resultat gesehen, aber in der Ukraine hab ich gesehen, was der Kommunismus bewirkt hat: die Entrechtung einer noch dazu gutgläubigen und zur Opferbereitschaft fähigen Welt. Die hofften jetzt, daß die Kolchosen von Hitler nicht weitergeführt würden, was tatsächlich geschehen ist, sondern daß das freie Kosaken- und Bauerntum wieder entsteht. Die Tragödie, die folgte, hab ich miterlebt."


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