|
Die frischgebackenen Soldaten,
die im April 1940 Wien mit dem Zug verließen, hatten keine Ahnung, wohin
sie transportiert werden sollten. Sie wußten nur, daß es jetzt im
wahrsten Sinn des Wortes blutiger Ernst werden würde.
Nach Tonis eigenen Aufzeichnungen, die im Privatarchiv
der Valerie Kittel erhalten sind, wurde sein Regiment aus "Teilen des
Infanterie-Ersatz-Regimentes 131 in Mistelbach, Neusiedl und Nikolsburg"
zusammengestellt. In seinem Brief vom 28. April erfährt man, daß er
zum Infanterie-Regiment 482 gehörte. Es handelte sich dabei um ein und
dieselbe Einheit. Bis Anfang Juni 1940 lag Toni "in Ruhe" hinter der Westfront,
dann wurde er bei der Erstürmung der
Maginotlinie
eingesetzt. Als am 22. Juni die Nachricht vom Waffenstillstand mit Frankreich
im Radio zu hören war, blieb die Zukunft dennoch ungewiß, denn
Hitler und seine Mitarbeiter planten bereits die Aktion "Seelöwe".
Unverschlüsselt hieß das: "Invasion Englands". Bis Oktober tobte die
Luftschlacht um das Inselreich - und wurde dann abgebrochen, der erste
Rückschlag für den nationalsozialistischen Größenwahn.
"Man ist von einem ganz gewöhnlichen Leben in die
Kriegssituation hineingestoßen worden, in Tatsachen und Ereignisse, auf
die man gar nicht vorbereitet war", sagt Frau Kittel. An politische
Unterdrückung waren sie und ihre Familie allerdings bereits aus der Zeit
des Austrofaschismus gewöhnt. Besonders verzweifelt
reagierte sie auf den Beginn des Frankreich-Feldzuges am 10. Mai, wie ihr Brief
vom Pfingstsonntag dieses Jahres zeigt. Eine Welle der Verbitterung
überrollte sie, als Paris am 14. Juni von den Deutschen eingenommen wurde.
Sowohl gegenüber ltalien, das am 10. Juni 1940
Frankreich und England den Krieg erklärte, wie auch gegen Frankreich hatte
Valerie Kittel zwiespältige Gefühle. Sie lehnte Italien ab, weil sie
es auf Urlauben "als Land des Faschismus" kennengelernt hatte. "Man hat
gedacht, dieses böse Beispiel ist schuld, daß es bei uns so geworden
ist." Die italienischen Kulturgüter bewunderte sie jedoch. In bezug auf
Frankreich meint sie: "lch war in meinen Gefühlen sehr zerrissen. Denn
einerseits habe ich die Argumente einbekannt, daß der Friedensvertrag von
St. Germain 1919 schuld am Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft war und die
kolossale Inflation herbeigeführt hat, und daß die Franzosen die
Kriegsschuld der Deutschen über Gebühr strapaziert und Rache genommen
hatten. Davon war ja dauernd die Rede. Aber auf der anderen Seite war für
Frankreich bei mir auch eine gewisse Sympathie vorhanden."
Was England anlangt, so verleitete ihre Aversion gegen
alles "Germanische" sie zu Pauschalurteilen, die aber eigentlich auf
Deutschland abzielten, über das sie ihre Meinung nicht offen sagen konnte.
Schon vor 1934 war Vally Kittel von einer gänzlich
anderen Geistesrichtung als der engen nationalsozialistischen Haß- und
Heldenideologie geprägt gewesen. An den Kaffeehauszirkeln mit Rosa und
Otto Ehrlich "nahmen immer sehr viele richtige Pazifisten und Kosmopoliten
teil, denen es möglich war, den Blick über die Grenzen hinaus in
fremde Kulturen zu machen". In diesen Kreisen besprach man bereits die
"Europa-Idee". Die Flucht vieler jüdischer Intellektueller
hinterließ eine geistige Öde, die Vally als sehr schmerzlich
empfand. Obwohl mit Kriegsbeginn der
Postverkehr mit dem
"feindlichen" Ausland eingeste!lt worden war, muß 1940 der Briefwechsel
mit den geflohenen Freunden durch Kuriere noch möglich gewesen sein. Denn
am 2. Juni schreibt Valerie: "Von Roserl kam gestem ein Brief, wo sie sich
für mein Beileid bedankt". Valerie Kittel bewahrt
unter ihren Briefen auch noch einen der Hildegard Ehrlich vom 10. Dezember 1938
aus England. Darin bedankt sich die etwa 16jährige für Vallys
Geburtstagswünsche: "Sie schreiben, einmal werde ich gerne eine
ältere Freundin haben wo!len, ja, das ist wahr, jetzt könnte ich
diese ältere Freundin gut gebrauchen. Denn obwohl es mir hier sehr gut
geht, so bin ich doch den ganzen Tag a!lein mit mir. Manchmal wird es mir dann
doch zuviel, da kommen allerhand Gedanken über alles mögliche und
dann verliere ich die Lust an allem, aber ich weine nicht ...
Etwas muß ich Ihnen schreiben, damit Sie und Toni
auch ein bisserl lachen können. Die Stiegen, die zur Untergrundbahn
führen, sind auf einem laufenden Band, auf der einen Seite geht man rauf,
auf der anderen runter. Ich hatte es sehr eilig und habe so auf der falschen
Seite hinaufzurennen versucht, dort wo die Leute runtergehen. Ich habe gedacht,
das macht nichts und bin derartig angestrengt hinaufgelaufen, bis ich endlich,
als ich schon todmüde war, entdeckt habe, daß ich trotz meines
Rennens immer wieder hinunterkomme. Das muß ein Anblick für
Götter gewesen sein, wie ich mich so geplagt habe, ohne ans Ziel zu
kommen. Sonst ist es mir aber bis jetzt immer gut gegangen, ich bin noch
überall angekommen. Ich glaube ganz ganz fest an ein Wiedersehen."
Es gab kein Wiedersehen, und Hildegard Ehrlich kam auch
nicht ans Ziel. Rosa und Otto Ehrlich hatten ihre Tochter zu Verwandten nach
England vorausgeschickt, folgten dann und reisten ihrerseits voraus in ihr
endgültiges Zufluchtsland, die Vereintgten Staaten. Valerie: "Jetzt
wollten sie das Kind nachkommen lassen, das Kind ist allein gefahren und ist
mit dem ersten Schiff, das von den Deutschen angegriffen worden ist,
untergegangen." Das Unglück passierte demnach am 3.
September 1939. "Um 21 Uhr, kaum zehn Stunden nach der Proklamierung des
Kriegszustandes, zerstörte eine Explosion den englischen 13.500 -
Tonnen-Überseedampfer
Athenia, der sich
auf dem Weg nach New York befand. 112 Menschen kamen dabei ums Leben", liest
man in einem Buch über den Zweiten Weltkrieg. Im "Völkischen
Beobachter" vom 5. September heißt es dazu: "Verbrecherische Aktionen der
englischen Kriegspropaganda ...Schiffskatastrophe wird als Torpedierung
umgelogen. ..." Nach diesem Bericht ist die "Athenia " am 4. September mit 1400
Passagieren an Bord 200 Meilen westlich der Hebriden gesunken.
Wiki Leibetseder, Rosa Ehrlichs Schwester, wird von
dieser ebenfalls im Brief vom 2. Juni erwähnt. Wiki war schon früher
nach England emigriert. Valerie Kittel berichtet, sie habe davor in Berlin im
Widerstand gearbeitet und sei auf der Flucht vor der
Gestapo aus dem
Fenster gesprungen. Seit damals ist sie beinahe taub. Der
Zusammenbruch Frankreichs im Sommer 1940 bewirkte, daß die
Auswanderungsmöglichkeiten für die noch in Wien verbliebenen Juden
stark eingeschränkt wurden. Bis zum Sommer 1940 hatten sie schon einen
langen Leidensweg hinter sich. Die sogenannten
Nürnberger
Gesetze wurden am 20. Mai 1938 für Österreich gültig. Unter
anderem definierte man darin, was ein Jude sei; im dazugehörigen
"Blutschutzgesetz"
verbot man z. B. Eheschließungen und außerehelichen Verkehr
zwischen "Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten
Blutes". Es folgten weiters die Einführung des Abstammungsnachweises
(Ariernachweis), der Kennkartenzwang für Juden und die Verordnung
über die Zusatzvornamen Israel und Sara. Waffenbesitz, Theater- und
Kinobesuch wurden Juden verboten, jüdische Geschäfte gekennzeichnet,
jüdische Buchhandlungen geschlossen, zeitweise Ausgehverbote für
Juden verhängt. Das geschah alles im Jahre 1938. In der "Kristallnacht"
vom 9. auf den 10. November 1938 nahm man 6547 Juden fest und verschickte 3700
von ihnen nach Dachau. Mit Kriegsbeginn verfiel der
Rassentheoretiker Alfred Rosenberg auf die Idee, in Polen ein "Judenreservat"
zu schaffen. Es fielen ja nun zahlreiche Einwanderungsländer aus und durch
die Eroberung Polens stieg die Zahl der jüdischen Einwohner des Reichs
gewaltig an. Ab Ende 1939 setzte also der zweite Abschnitt im
Vernichtungsgeschehen ein: die Deportation. Vally hatte bis zu diesem Zeitpunkt
bereits an ihren Freunden die Judenverfolgung hautnah miterlebt. Else Stiassny,
"eine richtige Intellektuelle, aus ganz reicher Familie", verlor ihre Wohnung.
"Sie hat müssen Trottoir waschen, das war ihr natürlich besonders
verhaßt." Ein Sohn starb im KZ, der andere begleitete diese Freundin in
die französische Emigration. Lea Welch wiederum kam
aus sehr eingeschränkten Verhältnissen. Sie stammte aus dem
polnischen Kolomea, war in einem Wiener Waisenhaus aufgewachsen und hatte mit
Vally an deren erster Arbeitsstelle Freundschafl geschlossen. "Sie hat sehr
viel gelitten, vor allem unter den Maßnahmen, die gegen
polnische Juden
ergriffen wurden." Polnische Juden wurden inhaftiert, so auch Lea. Man
ließ sie jedoch nach einigen Wochen Gefängnis - sie war in derselben
Zelle wie Käthe Leichter - unter der Bedingung frei, daß sie sofort
ausreise. Heute lebt sie in Australien. Am 23. Juni 1940
schreibt Valerie an ihren Mann: "Auch bei Frau Stärk hat sich wieder etwas
ereignet. Ihr Freund Eugen Str. ist seit über 14 Tagen dort, wo Robert ist
und man weiß gar nicht, was weiter sein wird."
Robert Uhlir
saß seit zehn Monaten im Wiener Landesgericht.
Eugen Streussler war Lola Stärks
Lebensgefährte, und Valerie war nach ihren eigenen Worten "eine von Lola
Stärks intimsten Bekannten. Denn viele andere hat sie nicht mehr gehabt.
Sie hat sich dann immer sehr an mich angeschlossen und ich hab ihr Schicksal
wirklich in allen Variationen miterlebt." "Lola
Stärk war mittelgroß, sehr resolut und hat immer gern mit ihrem
Äußeren kokettiert", erinnert sich
Maria Paul an einem
Sommernachmittag des Jahres 1986.
Franz Paul,
Schriftsteller, mittlerweile 90 Jahre alt: "Sie war eine echte Wienerin." Maria
widerspricht: "Sie hat sehr jüdisch ausgesehen." Franz: "Überhaupt
nicht. Sie war blond gefärbt." Maria: "Wie ich sie gekannt hab, war sie
grau ... Sie war eine wunderbare Köchin und hat sich die Kleider alle
selbst gemacht." Franz: "Herrliche Mehlspeisen hat sie gebacken". Franz Paul,
neun Jahre jünger als Lola, war in den dreißiger Jahren ihr
Lebensgefährte gewesen. Er und seine Frau Maria ermöglichten es der
Sängerin, die Kriegsjahre zu überleben. Nachdem
die Beziehung Lola Stärks mit Franz Paul auseinandergegangen war, lebte
sie mit dem etwa gleichaltrigen Eugen Streussler zusammen. Die beiden und
andere jüdische Freunde trafen einander oft bei Kittels, weil "im Jahr
1938 es ja schon begonnen hat, daß die Juden aus ihren Wohnungen weg
mußten, zusammenziehen auf Massenquartiere" (Valerie Kittel). Wenn
Valerie heute meint, diese Zusammenkünfte in ihrer Wohnung seien für
sie selbst nicht gefährlich gewesen, so unterschätzt sie die Gefahr,
in die sie sich damals begab. Denn der Bevölkerung war jeder
Umgang mit Juden
verboten worden. Man erlaubte nicht einmal, daß "Arier" jüdische
Kranke behandelten. Ein oft in den Briefen erwähnter Freund der Kittels,
Ludwig Sperlich, erinnert sich, dennoch in seiner Zahnpraxis jüdische
Patienten verarztet zu haben: "Zwischen den Ordinationszeiten, wenn sonst
niemand da war." Der Umgang mit Juden schien zwar in den
Nürnberger Gesetzen oder in anderen Erlässen nirgends als Delikt auf,
in der Praxis führten solche "Verstöße" aber zu "Schutzhaft"
oder Einweisung in KZs beziehungsweise für die Juden zur Deportation nach
dem Osten. Franz Paul erinnert sich noch lebhaft an die
Wohnverhältnisse von Stärk und Streussler, nachdem Lola aus ihrem
Reihenhaus in der Faistauergasse hinausgeworfen worden war: "Ein großes
Zimmer. Da waren ein Bett und ein Kasten für ein Paar. In diesem Zimmer
haben drei Paare gelebt." Wie andere Juden wurde
Streussler eines Tages zu Straßenarbeiten in den Bezirk Leopoldstadt
eingezogen, erzählt Franz Paul. "Es muß in der Oberen oder Unteren
Donaustraße gewesen sein. Er wurde von einem Ingenieur beaufsichtigt. Der
Streussler war ein streitbarer Bursche und hat diesem Ingenieur so etwas gesagt
wie: Machens Ihnen das selber! Daraufhin hat ihn der abführen lassen. Am
nächsten Tag hat es dem Ingenieur schon leid getan, er ist zur Polizei
gegangen und hat ihn entschuldigen und wieder freikriegen wollen. Nichts.
Streussler mußte nach Dachau." "Liebe Hilde, ich
hoffe sehr, daß Du Dich nicht meinetwegen ängstigst", schrieb Robert
Uhlir am 23. 8. 1939, nach seiner Festnahme durch die Geheime Staatspolizei an
seine Frau. "Jetzt bitte ich Dich, daß Du mir einige
Gebrauchsgegenstände hereinbringst. Nach Erhalt dieses Briefes kannst Du
die Gegenstände nachmittags zwischen 4-6 unter gleichzeitiger Vorweisung
dieses Briefes hier abgeben ... Ich hoffe, daß ich in wenigen Tagen
wieder bei Euch bin. ... Wegen der Pension setze Dich mit Vally ins
Einvemehmen." Auch im Brief vom 17. Dezember 1939 schickte Robert Uhlir
über seine Frau Grüße an Vally und fügte hinzu: "Sie soll
mir Herbert nicht zu sehr verwöhnen." Robert Uhlir,
geboren 1900, von 1920 an bei der Krankenkasse für Kaufmännische
Angestellte, zuletzt als Abteilungsleiter beschäftigt, dann wegen seiner
Zugehörigkeit zur Sozialaldemokratischen Partei zwangspensioniert, wurde
am 22. August 1939 zusammen mit mehr als 300 anderen führenden Sozialisten
und Kommunisten verhaftet und ohne Angabe von Gründen im Landesgericht
festgehalten. "Er und ich haben besonders großen Kontakt gehabt, weil ich
ja von 34 bis 38 bei seiner illegalen Gruppe war", sagt Vally Kittel. Sie
schildert ihn als "absolut überzeugten Genossen. Auch in seinem Gehaben
hat er das sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Er hat keine Kompromisse
geschlossen, und es wäre ihm unmöglich gewesen, wenn er eine Sache
ablehnt, daß er sich verbindlich benimmt." Nach seiner "Pensionierung"
von der Kasse arbeitete er bei einer Schuhfabrik in Stadlau.
Hilde Uhlir, die
Witwe Roberts, erinnert sich, daß ihr Mann bereits einige Tage vor der
Festnahme im August 1939 beschattet worden sei. "Am Abend vorher sind wir
draußen im Garten gesessen, der Bub war schon im Bett, da ist ein Mann
ganz langsam durch die Gasse gegangen und hat dauernd zu uns hergeschaut. Ich
sag zu meinem Mann: Warum schaut der dauernd her? Sagt er: Na, hoffentlich hat
das nichts zu bedeuten. Und in der Früh zwischen fünf und halb sechs
Uhr, mein Mann war herunten und hat sich grad rasiert,sind sie zu dritt
gekommen. Ich wollte von oben runter, da ist mir einer mit der Pistole
entgegengekommen und hat gesagt: Sie bleiben oben. Sie haben das ganze Haus
umgedreht. Aber ins Kinderzimmer, da hat der Bub geschlafen, da sind sie nicht
hineingegangen. Da hätte können alles drin sein. Sie haben gesagt,
mein Mann müsse mitgehen. Zu einem Verhör. Nachdem er ein paar
Stunden nicht zurückgekommen ist, bin ich hinein auf den
Morzinplatz - und
da war der ganze Platz voll Menschen, lauter Angehörige von Leuten, die am
selben Tag verhaftet worden sind. Das war knapp bevor der Krieg mit Polen
angefangen hat." Im Sommer 1940, fast ein Jahr
später, rätselte man noch immer über die Haftgründe
für Uhlir und seine Leidensgenossen. Ehefrau Hilde war "sehr oft drinnen
bei der Gestapo", immer mit dem zweijährigen Herbert an der Hand. Uhlirs
Referenten bei der Gestapo, einem gewissen
Schmidl, beteuerte
sie solange die Unschuld ihres Mannes, bis dieser meinte, bei ihrem Anblick
bekomme er Magenschmerzen, worauf Hilde antwortete; "Dagegen gibt es ein
einfaches Mittel. Sie lassen meinen Mann frei und Sie sehen mich nie wieder."
Hilde Uhlir bestätigt, daß sich Vally Kittel
während der Haft ihres Mannes intensiv um sie gekümmert habe.
"Wahrscheinlich hat Robert sie darum gebeten." Die Angst, ebenfalls hinter
Gitter zu kommen, kommt im Pfingstbrief Vallys drastisch zum Vorschein. "Ich
hab manchmal das Gefühl gehabt, ich werde bewacht. Man hat ja nie
gewußt, was die über einen wissen und ob einen nicht jemand
angegeben hat", meint Valerie. Tatsächlich waren Robert Uhlir und eine
Reihe anderer Genossen von einem ehemaligen Sportredakteur der
"Arbeiter-Zeitung", Hans Pav, denunziert
worden. 1945 wurde Pav deswegen zu 15 Jahren schweren Kerkers verurteilt.
Damals, im Sommer 1940, als die Nationalsozialisten sich auf dem Höhepunkt
ihrer Macht befanden, ahnten die Regime-Gegner nicht, daß sich das Blatt
so relativ bald wenden würde. Im Gegenteil, die militärischen Siege
entmutigten sie zutiefst. Anfangs hatten die
Befürworter des Nazi-Systems in Österreich triumphiert, doch die
Ernüchterung folgte bald. Besonders in der
Arbeiterschaft wuchs
die Enttäuschung, und Preiserhöhungen, Lohnsenkungen,
"preußische" Arbeitsdisziplin und Lebensmittelrationierungen trugen dazu
bei. Außerdem legte die NSDAP der Arbeiterschaft gegenüber eine
herablassende Haltung an den Tag; insgesamt fühlten sich die
Österreicher von den "großen Brüdern" aus dem "Altreich" von
oben herab behandelt. Franz Senghofer, nach dem Krieg
Bildungssekretär im österreichischen Gewerkschaftsbund und schon als
17jähriger Gewerkschaftssekretär, war ein von Valerie Kittel
bewunderter Fachmann für die Balkanländer. Nach 1934 hatte er sich
kurz in der illegalen sozialistischen Bewegung betätigt, wollte aber dann,
so sagt er heute, "nicht alles aufs Spiel setzen, wo ich gesehen habe,
daß alles umsonst ist". Er habe damals schon geglaubt: "Die ganze
Entwicklung ist historisch bedingt und unvermeidbar. Uns politisch Geschulten
war klar, daß wir durch den Faschismus und durch den Krieg hindurchgehen
müssen." Kurze Zeit habe zwischen Sozialisten und Nationalsozialisten das
Band einer Haßgemeinschaft gegen die Vaterländische Front bestanden.
"Es hat sogar Genossen gegeben, die in Verkennung gesagt haben: 'Wann die Nazi
kommen, sind die schwarzen Hund endlich dran!' Ich hab einen Onkel in Salzburg
gehabt, der hat das Parteiabzeichen der Nazi getragen. Sag ich: 'Onkel, was ist
denn los?' Er: 'Erstens gehts gegen die Schwarzen und dann heißts doch eh
National - S o z i a l i s t e n.' Auch innerhalb der Gewerkschaften, damals
hat ja zwischen den christlichen und den freien sozialistischen eine
ausgesprochene Feindschaft bestanden, hat es keinerlei Kontakte zur Abwehr der
nationalsozialistischen Gefahr gegeben. Das hat sich alles erst langsam gegen
Ende des Krieges entwickelt." Senghofer im
Rückblick: "Ich hatte das Glück, daß ich nie, wie so mancher
Familienvater im öffentlichen Dienst, in die fürchterliche Zwangslage
gekommen bin, entweder der NSDAP beizutreten oder die Existenz zu verlieren."
Daß er kein Held sein mußte, glaubt Senghofer dem Nazi-Leiter des
Mitteleuropäischen Reisebüros, wo er arbeitete, zu verdanken. Einige
Wochen nach der Einverleibung Österreichs in Nazi-Deutschland mußten
die Angestellten in einem Fragebogen ihre bisherigen politischen
Tätigkeiten angeben, was Senghofer wahrheitsgetreu tat. Darauf sei der
Betriebsobmann zu ihm gekommen und habe gesagt: "Ich habe Ihren Fragebogen
angeschaut. Sie sind ein ehrlicher anständiger Mensch, wir wissen bei
Ihnen, wie wir dran sind. Sie stehen ab heute unter meinem Schutz."
"Offenkundig ein fanatischer Nazi, aber ein gerechter
Mensch, einer von jenen, die ursprünglich im Nationalsozialismus etwas
anderes gesehen haben, als er sich später mit seinen Greueln entwickelt
hat", urteilt Senghofer über diesen Gönner.
Alois Piperger, bis 1934 sozialistischer Redakteur, nach
dem Krieg unter anderem Zentralsekretär der SPÖ, erinnert sich: "Am
Anfang, im Rausch des Anschlusses, setzten die Nazi ja etliche Gesten mit dem
Ziel, um die Sozialisten zu werben. Es wurden zum Beispiel von den
Christlichsozialen Gemaßregelte wieder in Betriebe aufgenommen. Aber das
hat nicht lange gedauert, dann hat die Verfolgung mit ganzer Wucht eingesetzt."
Piperger selbst war nach 1934 zunächst arbeitslos
gewesen und hatte dann mit einem jüdischen Freund die Buchgemeinschaft
"Lesergilde" gegründet. AIs diese 1938 "arisiert" wurde, trat Piperger aus
und arbeitete wie seine Frau Anny in einer
Bettfedernfabrik in
Wien-Margareten, die ein Freund in gutem Einvernehmen vom jüdischen
Vorbesitzer übernommen hatte. Anny Piperger hatte übrigens, wie
andere Freundinnen Valeries, die Kindergärtnerinnenschule in
Schönbrunn besucht und sich zwischen 1934 und 1938 mit schwererziehbaren
Kindern beschäftigt. Alois Piperger wurde 1943 zur Arbeit in einem
Rüstungsbetrieb in Wien dienstverpflichtet, wo man Richtaufsätze
für Granatwerfer herstellte. Im "privaten
Meinungsaustausch", zu dem sich Parteifreunde trafen, konnte die
Parteisubkultur in ganz Österreich sich innerhalb eines Netzes
unabhängiger improvisierter Zirkel am Leben halten, beschreibt Radomir
Luža die Situation der in den Untergrund gedrängten Sozialdemokraten.
Piperger, Senghofer und Kittel bestätigen, die Mehrheit der
Gesinnungsgenossen habe damals gemeint, "daß die durch verbotene Aktionen
möglicherweise hervorgerufenen Verluste an Menschenleben sowie das dadurch
entstehende menschliche Leid alle unmittelbaren Erfolge nicht aufheben konnten"
(Luža). Die lange Haft so enger Freunde wie Robert Uhlir verstärkte
diese Einstellung. Alois Piperger: "Durch die furchtbare Brutalität des
Nazi-Regimes hatte der Durchschnittsbürger, der kein Nazi war, von
vornherein ein schlechtes Gewissen. Und da jeder dagegen war und jeder im
engsten Freundeskreis natürlich über das Regime schimpfte, war das
schlechte Gewissen sozusagen latent in jedem vorhanden und die Vorsicht
gegenüber Polizei, Gestapo und Nazi-Funktionären eine ganz besonders
große. Man hat ja gar nichts zu tun brauchen, man ist gegangen in dem
Bewußtsein, wenn jetzt einer kommt und schnappt dich, findet der sicher
irgendeinen Anhaltspunkt zur Begründung der Verfolgung."
Alois Piperger konnte sich aufgrund seiner bis 1934
exponierten politischen Stellung keinerlei Widerstandsarbeit leisten.
Allerdings berichtet Valerie Kittel von "Treffs" und Meinungsaustausch auch in
seinem Haus, mit deren Hilfe der unterirdische Informationsfluß erhalten
blieb. Pipergers Kontakte reichten zu Genossen ins Ausland und er teilte sein
Wissen mit den Freunden in Wien. Diese Treffen waren
seltene Lichtblicke im unerträglichen Tief der Untätigkeit, zu der
sich auf der "falschen" Seite politisch Engagierte damals gezwungen sahen. Ab
und zu Abende mit früheren Genossen, selbstverständliche
Hilfeleistungen für bedrängte Freunde, Verbergen der eigenen Meinung
und Verzweiflung angesichts der Siege des verhaßten Systems - das war die
Situation zu Hause, als Toni Kittel zu einem Urlaub in Wien eintraf, ehe seine
militärische Einheit ins schlesische Münsterberg verlegt wurde.
|