Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE MÜNSTERBERG

Wien, 30. September 1940

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Kommentar

Das wirklich Tragische bei mir ist dies: Mein Verstand sagt mir, nicht alles so ernst zu nehmen, was jetzt auf der Welt vorgeht, denn es hat immer große Probleme und Ungerechtigkeiten und Mord und Unglück gegeben, und auch die Menschen waren wahrscheinlich zu allen Zeiten gleich dumm und unernst. Und obwohl ich mich so sehr bemühe, an nichts teilzunehmen und mich nicht einmal an den Vorgängen interessiert zu zeigen, so habe ich andererseits, wie Du weißt, ein derart leidenschaftliches Gefühl und ein Temperament, das in der leidenschaftlichsten Weise nicht nur an allen gegenwärtigen Vorgängen größten Anteil nimmt, sondern auch sogar an den zukünftigen, die hundert und mehr Jahre vor uns liegen. Von den vergangenen gar nicht zu reden.
Und noch etwas ist mir so schrecklich und meiner Natur entgegengesetzt: nämlich, daß ich gar nicht tätigen Anteil nehmen kann an den Dingen des öffentlichen Lebens, nicht mitwirken kann an einer schöneren Zukunft für alle, nicht für eine Idee wirken kann mit der ganzen Hingebung, deren ich fähig bin. Das alles kann ich jetzt nicht tun und muß mich im Gegenteil konsequent fernhalten und die wenigen Freuden auf den so wenig gewordenen Gebieten suchen, auf denen man heute noch, ohne schmerzliche Kompromisse schließen zu müssen, tätig sein kann. Wo ich immer gewohnt war, eine gewisse Führerrolle zu spielen, da muß ich heute Einzelgängerin sein, ein fast asoziales Wesen, das mit den anderen ja in keinerlei Berührung kommen darf. Darunter leide ich sehr.
Sonst kann ich Dir heute gar nichts berichten, außer, daß ich im Russisch - Kurs war und daß mich das Lernen dieser Sprache immer mehr und mehr freut. Aber das Schreckliche ist halt die lange Bürozeit und vor allem die lange Fahrt, jetzt in der stockfinsteren Straßenbahn sowohl früh als auch abends nach dem Kurs, wo man nichts anderes tun kann als sitzen und in die Luft starren.
Wenn nur dieser garstige Winter noch nicht kommen würde, ich hätte gerade jetzt so starke Sehnsucht nach Sonne, Licht und Wärme und ein bißchen Aufenthalt im Freien.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen