Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE FRANKREICH

Wien, 30. Juni 1940

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Kommentar

Heutzutage gehen ja in ganz Europa ungeheure und noch nicht ganz vorstellbare Dinge und Umwälzungen vor sich, was gestern noch feststand, ist heute nicht mehr und umgekehrt. Und trotzdem ist der einzelne Mensch heute unbeweglicher und festgenagelter als früher. Ich sitze hier zu Hause, wenn ich nicht gerade im Büro bin und weiß nicht, was ich anfangen soll, ich komme mir eingesperrt und gelähmt vor. Und so sitze und warte ich eben auf bessere Zeiten.
Du hast mir noch nicht geschrieben, wie es mit Deinen Urlaubsaussichten ist. Besteht noch immer Urlaubssperre? Wie lange wird sie dauem? Jetzt ist doch schon Frieden mit Frankreich? Karli ist schon wieder ganz gesund und macht schon seit dieser Woche Dienst. Franzl ist auch noch hier, aber man hört immer wieder, daß sehr viele Eisenbahner wegkommen sollen. Momentan ist er nicht sehr viel beschäftigt, er fährt nicht einmal im Tumus, sondem muß täglich anfragen gehen und wenn einmal eine Schaffnerin krank ist, dann kann er für sie einspringen! Die Frauen fahren jetzt im Tumus und die Männer müssen anfragen gehen. Du kannst Dir vorstellen, wie er sich ärgert. Vater wird ab morgen ins Büro gehen, es läßt sich absolut nichts mehr machen.
Herma will nach Schulschluß am 8. Juli mit Fritzerl aufs Land fahren und zwar ganz in die Nähe von Steyr und von dort jeden Samstag über Sonntag nach Linz. Sie wird dort bei einem Bauem wohnen, der auch gleichzeitig Fleischhauer ist und wird genug zum Essen haben. Ich wäre vielleicht auch dorthin gefahren, da mir aber der Arzt gesagt hat, ich muß unbedingt über 1200 m hoch sein, so muß ich mir etwas anderes suchen.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen