Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE MÜNSTERBERG

Wien, 29. Oktober 1940

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Kommentar

Gestern nachmittag war ich auf einen Sprung bei Lola, Gott sei Dank gab es da wenigstens keine neuen unangenehmen Nachrichten, es genügt die fortdauernde Aussichtslosigkeit. Dann erzählte mir ein Kollege über den Fall Anny J. Ihr Rechtsanwalt ist - da sie bereits verurteilt wurde - zu einer Geldstrafe - zum Personalchef in die Mariahilferstraße gegangen, urn zu hören, was man gegen sie zu tun beabsichtigt. Leider war die Auskunft so negativ, daß sie sich entschloß, ihr Dienstverhältnis einvernehmlich mit 31. d. M. zu lösen. Sie will überhaupt weg aus Wien und irgendwo zu Verwandten. Es dürfte auch das beste für sie sein, denn nach allem zu schließen, hatte sie hier kein ruhiges Leben mehr.
Heute ruft mich die Grete von der Plankengasse an, sie wolle dringend mit mir sprechen -so dringend, daß ich sie morgen früh um 1/2 7 Uhr auf der Ringstraße treffen soll, da irgend etwas bei ihr los ist. Sie sagte mir nur das eine Wort: Kriminalpolizei.
Da doch ihr Mann am Sonntag bereits nach Warschau gefahren ist und sie nun allein dasteht, will ich ihr meine Anteilnahme nicht vorenthalten, ob ich ihr raten kann, weiß ich nicht und bezweifle es auch.
Außerdem will ich morgen nachmittag zu Hilde gehen, da ich die ganze vorige Woche nicht dort war. Und so geht das weiter Tag für Tag, ich bin beinahe gänzlich verzweifelt. Soll ich mich von den Leuten zurückziehen, um nicht selbst in etwas hineinzukommen, aber es hat für mich beinahe den Anschein, als ware überhaupt niemand mehr von "oben gesehen" einwandfrei. Mein Gott, ich bekomme schön langsam einen Verfolgungswahn. Heute nacht hat es zum erstenmal stark hier in Wien geschneit, als es hell wurde, sah man, daß alles in tiefstes Weiß eingehüllt war. Du fragst, warum ich nicht öfters in Konzerte oder Theater gehe? Ehrlich gesagt, ich habe nicht große Lust dazu. Erstens gehe ich lieber mit Dir als allein und zweitens jetzt im Krieg in ein Theater zu gehen, erscheint mir nicht das Richtige. Ich muß immer an die Menschen denken, die so sehr durch die Folgen des Krieges getroffen sind, daß ich das Herz nicht habe, mich vergnügen zu wollen.
Wenn ich so allein bin und mir alles so trostlos erscheint und ich einen um den anderen aus unserem Bekanntenkreis sehe, wie er dahingeht und alles so bitter ist, nehme ich mir immer vor, stark zu bleiben, Spatzili, ich muß Dich ein bißchen aus Deiner Weltverlorenheit aufwecken, sei mir nicht böse, Du mußt mir ein bißchen mehr beistehen mit Deinem Trost und Deiner Aufmunterung und mit Deinem Rat.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen