Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE POLEN

Wien, 29. Juni 1941

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Kommentar

Ich fürchte, daß ich keine oder nicht die richtigen Worte finden kann, um Dir meine Empfindungen und Gedanken einer langen bangen Woche zu schildern. Da jede Verbindung so ganz und gar abgeschnitten war und ich gar nicht weiß, in welcher Gegend Du Dich aufhältst, wie sollten Dich da meine Gedanken finden? In dieser Lage gibt es nur eines, was ich brennend für Dich wünsche: daß Du einen gewissen Gleichmut bewahren mögest, der genährt wird erstens durch Deine Liebe zu mir und durch meine große, treue und feste Liebe zu Dir jetzt und für alle Zeiten. Du gehörst zu mir und ich betrachte Dich als meinen größten Schatz, als das in meinem allertiefsten Innern zu mir gehörige Wesen, dem ich soviel Kraft und Stärke aus mir selbst heraus zukommen lassen werde, als ich vermag. Ich weiß es jetzt aus tiefster innerer Erkenntnis: es steht alles in Gottes Hand! Du kennst meine Einstellung zu Religion und Kirche. Ich habe seit vielen Jahren nichts mehr damit zu tun gehabt. Aber in den letzten vielen Monaten, die so drückend und so kritisch waren, mußte ich mich in meiner aus innerer Notwendigkeit selbstgewählten Einsamkeit mit irgend jemand aussprechen, mußte mit jemand über meine geheimsten persönlichen und allgemeinen Wünsche zu Rate gehen und da ich unter Menschen hier niemand fand, habe ich Gott gefunden. Und er hat mich niemals ohne Trost und Zuversicht von sich gehen lassen. Spatzilein, Dir wird das fremd sein, weil es Dir nicht liegt, aber mich läßt Du ja wohl gewähren?
Heute am Sonntag bin ich seit frühmorgens nicht aus dem Haus gewesen. Ich bin dabei, mir meine Sachen für den Urlaub herzurichten und hörte dabei im Radio die Meldungen über den Verlauf und Erfolg der Operationen im Osten, die zizerlweise gegeben werden. Bist Du ganz vollkommen gesund? Und hast Du unter den Krampfadern sehr zu leiden? Mußt Du viel marschieren? Bist Du genügend und gut verpflegt? Kannst Du Dich jeden Tag richtig ausschlafen? Unter Frau Richters Nervosität habe ich telefonisch sehr stark zu leiden!
Hoffentlich bekomme ich noch von Dir Nachricht, bevor ich Samstag wegfahre. Du kannst Dir vorstellen, mit welchen gedrückten und bangen Gefühlen ich mich für die Reise vorbereite, aber ich kann meinen Urlaub nicht mehr verschieben und dann ist es mir lieber, ich habe den Urlaub hinter mir und bin dann ab 20. Juli ungestört in Wien.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen