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Nervenzermürbende
Ungewißheit für Valerie und ungeahnte Strapazen für Toni
brachten die Monate April bis Juli 1941. Die "letzten Ereignisse" von denen
Vally im Brief vom 8. April spricht, umschreiben die Eroberung Jugoslawiens mit
dem Bombardement von Belgrad. Über die Pläne der deutschen Wehrmacht
gab es in den folgenden Wochen wilde Gerüchte, die sich aber nur in
bedrückende Ahnungen umwandelten. Die
Feldpost durfte
weder aus Adresse, Absender noch Inhalt den Herkunftsort erkennen lassen und
wurde einer sogenannten "abwehrmäßigen Überprüfung"
unterzogen. Auch mit einem ungeschickten Code (Worte wie "Krampfadern",
"Stiefelknecht" usw. sollten Vally Auskunft geben, ob sich die Truppe in Ruhe,
auf dem Marsch oder in Angriff befand) waren diese Bestimmungen nicht zu
umgehen; außerdem verhüllten lange Intervalle zwischen den Briefen
den Einblick in das Leben des Ehemannes. Die Soldaten waren über die
militärischen Pläne womöglich schlechter informiert als die
politisch bewußten Kreise in der Heimat. Kittels Kriegskamerad Franz
Richter erinnert sich: "Es gab das größte Fama-Angebot darüber,
wo es eigentlich hingehen sollte. Es herrschte eine dauernde Verdrängung
im Untergrund der Wahrheit, daß es gegen die Sowjetunion geht."
Die Soldaten hatten während ihres Marsches durch Polen
Gelegenheit, mit eigenen Augen die wahre Situation der Juden zu erkennen. In
Wien versuchte Vallys Freundin Olga Zvacek zusammen mit ihrer Schwester Hedy im
letzten Augenblick diesem Los zu entkommen. Bis zum Beginn des
Russland-Feldzuges war eine
Auswanderung
über Spanien und Portugal in bescheidenem Ausmaß noch möglich.
Am 7 August 1941 wurde dann über jüdische Männer zwischen dem
18. und dem 45. Lebensjahr ein Auswanderungsverbot verhängt und knapp
darauf jede Auswanderung untersagt. Die letzten Emigranten verließen am
2. November 1941 Wien in Richtung Portugal. Auswanderung zuerst und
Deportation
nachher hatten sich von der Warte der herrschenden Nationalsozialisten aus als
unzureichende Mittel erwiesen, um das Reich "judenrein" zu machen. Ab
Spätsommer 1941 bereits beschäftigte man sich mit der Vorbereitung
zum letzten Schritt - er hieß Ausrottung. Olgas und
Hedy's Flucht gelang nicht mehr. Vally: "Sie haben dann die Ausreisebewilligung
gehabt, aber sie wollten ohne Eltern nicht fahren und die haben nicht
wegkönnen. Dann sind die zwei Mädeln also auch geblieben, weil sie
die Eltern nicht zurücklassen wollten. Und auf einmal waren alle vier
nicht mehr vorhanden, verschwunden, umgekommen in einem Konzentrationslager
oder irgendwo." Auch der geschiedene Mann von Olga, Willi
Zvacek, ein Genosse aus der Sozialdemokratischen Partei, überliefert diese
Version. Dem Brief Vallys vom 18. Juni ist zu entnehmen, daß
höchstwahrscheinlich eine Erkrankung der Mutter mit dem Entschluß,
zu bleiben, in Zusammenhang stand. Olga war
Handelsangestellte gewesen, Schwester Hedy Kindergärtnerin. Während
der Zeit des Austrofaschisimus hatte Olga auf Grund des Doppelverdienergesetzes
als Frau eines Gemeindeangestellten ihre Stelle verloren. Sie war, wie auch
Hedy katholisch getauft; die Hochzeitszeremonie mit Willi am 5. August 1934 war
in einer katholischen Kirche erfolgt. Zwischen 1934 und 1938 lernte Willi
Zvacek in der Maturaschule seine zweite Frau Minnie kennen und lieben. Am 26.
März 1938 ließen sich Olga und er, wie er betont, einvernehmlich
scheiden. Zvacek versichert, die Trennung habe mit Rassismus nichts zu tun
gehabt. Er überwies ein Drittel seines Einkommens an Olga. Bis zum
Kriegsausbruch mit den
USA arbeitete sie als Putzfrau bei in Wien ansässigen Amerikanern und
verdiente sich so etwas Geld dazu. Hedy arbeitete nach Willis Erinnerung in der
Israelitischen Kultusgemeinde. Die Schwestern und ihre Eltern durchwanderten
den üblichen Leidensweg aus der angestammten über eine schlechte in
eine noch schlechtere Behausung. Willi: "Die Olga hat
mich immer gefragt: ' 'Was soll ich machen? Soll ich ausreisen?' Und ich hab
gesagt: 'Die werden eine Weile wild sein und dann wird wieder Ruhe eintreten,
da wird nichts sein. Hier kann ich für dich sorgen, woanders nicht.'
Für mich wäre eine Ausreise nicht möglich gewesen. Ja, wenn die
Minnie nicht gewesen wäre, wären wir vielleicht miteinander raus."
Als ab September 1941 der
Judenstern
befohlen wurde, trug Olga ihn nicht, wie sich Alois Piperger erinnert. Willi
berichtet von Rendezvous mit Olga beim Maria-Theresien-Denkmal, bei denen sie
sich eine Aktentasche vor den Judenstern hielt. Nach dem
Ausbruch des Rußland-Krieges muß das Leben für die
jüdische Bevölkerung zusehends unerträglicher geworden sein. Der
Judenstern war nur eine Schikane von vielen, zum Bespiel:
23. 10. 1941: Den Juden ist verboten, die
städtischen Autobusse, Landkraftwagen oder Postkraftwagen zu
benützen. Die Benutzung des 40iger-Wagens der Straßenbahn ist
verboten. Juden dürfen nicht über den Morzinplatz gehen, es sei denn,
daß sie im dienstlichen Auftrag oder auf Grund einer Vorladung das
Gebäude der Geheimen Staatspolizei betreten müssen.
26. 12. 1941: Juden ist mit sofortiger Wirkung
die Benützung öffentlicher Fernsprechstellen verboten.
10. 4. 1942: Sämtliche Personen, die im
Sinne des § 5 der ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz Juden sind
oder als Juden gelten, haben auf der Aussenseite der Eingangstür ihrer
Wohnung einen Judenstern anzubringen. (Es folgen Details über Farbe, Art
und Weise und Ort der Anbringung, insgesamt acht ausführliche Punkte!)
24. 4. 1942: Juden dürfen beginnend mit 1.
Mai 1942 die öffentlichen Verkehrsmittel ihrer Wohngemeinde nur auf Grund
einer polizeilichen Erlaubnisbescheinigung benützen. Juden ist mit
sofortiger Wirkung die Benützung von Warteräumen, Wirtschaften und
sonstigen Einrichtungen sämtlicher Verkehrsbetriebe verboten.
8. 5. 1942: Sämtliche Wiener Parkanlagen
werden aufgezählt, die Juden ab nun nicht mehr betreten dürfen. Auch
das gesamte Gebiet des Wienerwaldes, des Bisamberges und der Freudenau wird
für Juden als Ausflugsgebiet verboten.
12. 6. 1942: Juden ist die Inanspruchnahme von
Friseuren verboten. 16. 7. 1942: Juden ist das
Entlehnen von Büchern aus öffentlichen oder privaten
Leihbüchereien untersagt. Das gilt auch für Juden, die zum Tragen des
Kennzeichens nicht verpflichtet sind (andere hielten sich zu diesem Zeitpunkt
höchstens nur mehr im Untergrund in Wien auf!).
Um die Vernichtung der Juden keinesfalls mit dem
Pflichtgefühl gegenüber den staatlichen Gesetzen in Konflikt zu
bringen, erging am 25. 11. 1941 die elfte Verordnung zum
Reichsbürgergesetz: Ein Jude, der seinen
persöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, kann nicht deutscher
Staatsangehöriger sein. Der gewöhnliche Aufenthalt im Ausland ist
dann gegeben, wenn sich ein Jude im Ausland unter Umständen aufhält,
die erkennen lassen, daß er dort nicht nur vorübergehend weilt. Das
Vermögen des Juden, der die deutsche Staatsangehörigkeit auf Grund
dieser Verordnung verliert, verfällt mit dem Verlust der
Staatsangehörigkeit dem Reich. Auf diese Art vermied
man, daß ein anderer Staat Nachforschungen über die Deportierten
anstellen konnte, und erlangte die juristische Rechtfertigung, jüdischen
Besitz zu konfiszieren.
Wie reagierten die Menschen um
Valerie Kittel, die keine Nationalsozialisten, sondern deren Gegner waren und
bei ihren Freunden zwischen Juden und Nichtjuden bisher nicht unterschieden
hatten, auf die Verbrechen an diesen jüdischen Freunden?
Vallys frühere Bürokollegin, Anny Jonak,
schrieb am 23. 2. 1941 aus Prag: "Was Du
über H. R.
schreibst, scheint mit dem übereinzustimmen, was man hier hört. Arme
Menschen!" A r m e M e n s c h e n ! Und damit
weggeschoben? Viele der damals schweigenden Gegner des
Regimes sagen heute, so wie Alois Piperger, daß man verzweifelt mit
geballten Fäusten in den Taschen die Tage hingebracht habe.
Mit geballten Fäusten in den Taschen wegschaute?
Franz Senghofer erinnert sich, daß man geglaubt
habe, man müsse einfach durch den Faschismus hindurch. Aber gehen
Faschismus und Wegsehen von der Vernichtung hunderttausender Menschen logisch
Hand in Hand? Ich fragte Franz Senghofer: "Der
Antisemitismus war ein wichtiger Bestandteil der NS-Ideologie. Wie standen Sie
dazu?" Senghofer: "Naja, was soll ich sagen. Da war eine
bestimmte Zeit, wie es für Juden noch nicht so gefährlich war und wo
man noch absolut bedenkenlos Kontakte mit ihnen haben konnte. Wie es dann
kritisch geworden ist, sind die meisten von ihnen weggegangen. Natürlich
hab ich viele jüdische Genossen gehabt" Frage: "War
das nicht schrecklich, daß die alle weggehen mußten?"
Senghofer: "Schauen Sie, es ist für die Juden sehr
schmerzlich gewesen!" (Es ist für die Juden sehr schmerzlich gewesen!)
Senghofer weiter: "Natürlich, wie man gehört
hat, einen Danneberg
haben sie erwischt und er ist im KZ zugrundegegangen und die Käthe
Leichter ist zugrundegegangen..." Frage: "Hat man das
gehört?" Senghofer: "Naja, es sind auch Leute wieder
aus dem KZ entlassen worden, weil sie von einem Betrieb als Spezialist auf
irgendeinem Gebiet angefordert worden sind. Man hat das dann schon erfahren.
Die Leute, die sagen, sie haben nie etwas davon gehört, die haben, wenn
das stimmt, keine Ahnung vom Wesen des Nationalsozialismus gehabt. Wir haben
doch gewußt, was in Deutschland getrieben worden ist mit den Leuten, wie
sie zu Tode geschunden worden sind, geprügelt. Das konnte man wissen. Aber
was konnte man machen? Nichts. Warten, bis die Gelegenheit kommt.
Überleben." Willi Zvacek sagt: "Die Olga zu
verstecken, das wäre eine Eventualität gewesen. Aber die Minnie,
meine zweite Frau, hätte das nicht erlaubt. Man hat ja aber auch nicht
geahnt, was kommt. Man hat an Umsiedlung geglaubt. Ja, aussiedeln, Trottoir
putzen, quälen, prügeln, das hat man alles gewußt. Gut, hat man
sich gesagt, das ist eine Quälerei, das geht vorüber. Natürlich
hat einen das empört. Die Wiener haben das so aufgenommen wie ein Gewitter
Man hat gewußt, wer mit Juden verkehrt, kann ins KZ kommen, könnte
irgendwie Unannehmlichkeiten haben. Und daher hat man sich vorsichtig
zurückgezogen. Aber nicht alle. Ich habe meine Frau - die Olga - immer
besucht." Von der Verschleppung Olgas und ihrer Familie
erfährt er durch eine Bekannte, die gegenüber von Olga wohnte. "Die
hat gesehen, wie sie einmal in der Früh mit Koffern weg sind."
Willi und Olga hatten vereinbart, im Falle einer Trennung
sich nach dem Krieg auf irgendeine Weise Nachricht zu geben. "Das hat sie
insofern eingehalten, als dann, wie eine Sortierung war - sie sind nach Riga
oder sonstwohin gebracht worden -, die zwei Mädeln, die Olga und die Hedy,
sich auf die Seite der Eltern gestellt und einer Freundin aufgetragen haben,
darüber in Wien Nachricht zu geben. Die Frau ist nach dem Krieg
zurückgekommen und hat uns das erzählt und uns grüßen
lassen. Das ist die letzte Nachricht, die ich hab. Im
45er Jahr hab ich eine Zeitungsnotiz gefunden, daß eine Gruppe Wiener
Juden irgendwo in Lettland auf einem Gut in eine Scheune gesperrt wurde. Dann
haben sie die in geschlossene Autos verladen, mit Bänken drin und die
Autogase hineingeleitet während der Fahrt. Zurückgekommen sind nur
die Kleider. Das wäre eine Möglichkeit, wie es gewesen sein kann."
Es gab einen linken Antisemitismus, ebenso wie ein jüdischer
Antisemitismus in Diskussion ist. Diese Problematik soll hier aber nicht
besprochen werden. Die Frage ist lediglich, warum und wie es Freunde und sogar
Verwandte fertigbrachten mit geducktem Kopf der Verfolgung von Freunden und
Verwandten zuzusehen - oder wegzusehen. Vorurteile, ins Positive verkehrt, gibt
es auch bei Vallys Bekannten: "Die Juden sind besonders intelligent",
"besonders sexuell auf Draht", "der schaute typisch jüdisch aus"...
Bemerkungen, die Juden absondern, die es ermöglichen, ihr Schicksal
wegzruschieben, sich umzudrehen. Arme Menschen - aber eben a n d e r e
Menschen! "Ohne Hitler gäbe es keine Juden mehr",
behauptet Willi Zvacek und hat sich nicht versprochen, sondern meint damit,
zumindest die assimilierungswilligen Juden wären längst sowohl in
ihrem wie auch im Bewußtsein der übrigen Österreicher in der
Bevölkerung aufgegangen. Er schiebt die Schuld, daß Juden ohne
Aufschrei, Revolte, wirksamen Widerstand der Mitbürger abgesondert und
gequält werden konnten, damit Adolf Hitler zu. Man könnte es auch
umgekehrt sehen: Man hat damals in Österreich, auch in
nicht-antisemitischen Kreisen, die "Andersartigkeit" der Juden "entdeckt" und
sie für den eigenen Schutz und die Beruhigung des eigenen Gewissens
eingesetzt. Man hat sie als wohl arme, aber andere Menschen deklariert und war
froh, daß das Gewitter über ihnen und nicht über einem selbst
niederging. Hätte man die geballten Fäuste gezeigt, der Empörung
in Solidaritätsakten Ausdruck gegeben, dann wäre Hitler seine
Vernichtungsarbeit schwer geworden. Es gibt zumindest ein Beispiel
dafür:
Dänemark. Als die deutschen Besatzer planten, den Judenstern in
Dänemark einzuführen, sagte man ihnen, als erster werde ihn sich der
König anstecken. Hannah Arendt schreibt in ihrem Buch "Eichmann in
Jerusalem": "Dieses einzige uns bekannte Beispiel von offenem Widerstand einer
Bevölkerung scheint zu zeigen, daß die Nazis, die solchem Widerstand
begegneten, nicht nur opportunistisch nachgaben, sondern gewissermaßen
ihre Meinung änderten... Sie waren auf prinzipiellen Widerstand
gestoßen, und ihre Härte schmolz wie Butter an der Sonne."
An die Schwägerin Herma schrieb Toni Kittel am 20. Juli 1941
ausführlicher als an Vally über die Ereignisse nach dem Überfall
Rußlands: "Wir hatten das besondere Glück, gleich am ersten Tag
eingesetzt zu werden, und zwar an einer sehr stark befestigten Linie. Unser
Bataillon war eines der vordersten und bekam nachmittags schon heftiges
Artilleriefeuer. Der Beschuß war so arg, daß die Luft total
verpestet war und zu Nies- und Tränenreiz reichte, die logische Folge war,
daß Gasalarm gegeben wurde und wir stundenlang mit der Gasmaske im
Gefecht lagen. Die vordersten Kompanien hatten ohne schwere Waffen Bunker zu
stürmen, und das Ergebnis von einigen Stunden waren zwölf Tote und
zirka 40 Verletzte. Unser Bataillon wurde dann, da es die wenigsten Verluste
hatte, einer anderen Einheit unterstellt und an einer anderen Stelle
eingesetzt. Wir hatten von da an riesige Marschleistungen zu vollbringen und 60
km Tagesleistung war das normale. Ich kann ruhig behaupten, daß ich vom
22. bis 30. Juni nicht eine Stunde geschlafen habe." Wie
er auch seiner Frau schilderte, bekam er fürchterliche Schmerzen in den
Beinen. Die Ärzte konstatierten "Phlegmone". "Eine rasch fortschreitende
diffuse Entzündung, die zu eitriger Einschmelzung der Haut und
Gewebszerstörung führt und meist durch eine Stabilo- oder
Streptokokkeninfektion ausgelöst wird", liest Valerie Kittel aus einem
Ärztebuch vor. Damals machte sie sich wegen der Erkrankung ihres Mannes
wenig Sorgen, sondern spürte "riesige Erleichterung", weil er von der
russischen Front wegkam. Bis Ende des Jahres 1941 ist der
Briefwechsel spärlich. Im Notizbuch hat Vally notiert, daß sie im
September mit Toni für einige Tage in die Wachau gefahren ist. An den
folgenden Wochenenden besuchte sie ihn häufig bei seiner Einheit in
Mistelbach, wo er bis Dezember seinen Militärdienst leistete.
Am 20. dieses Monats schrieb sie ins Notizbuch: "Toni um
12.55 Uhr mich im Büro angerufen! Am 21. nach Eisenstadt gefahren, abends
zurück." Das war der Abschied - für lange Zeit.
Aus einem Brief von Dr. Alfred Zankl an Toni mit Datum
16. November 1941 lässt sich die Situation ermessen, in die Anton Kittel
hineinfuhr: "Diesmal hast Du bestimmt berechtigten
Anlaß zu meutern, weil ich Deine Briefe so lange nicht beantwortete. Aber
glaub mir, es kostet Überwindung, den 'Pfeif-drauf' Standpunkt, auf dem
wir ausnahmslos alle schon angelangt sind, zu unterdrücken. Man zieht uns
immer tiefer in dieses scheußliche Land hinein, ein wirkliches Ausspannen
scheint es für uns überhaupt nicht mehr zu geben. Momentan haben wir
zwar einige Ruhetage in einem kleinen, scheußlichen Kaff südlich von
Orel - rechne Dir einmal aus, wieviele km wir in der Zwischenzeit schon wieder
zurückgelegt haben - aber auch diese Ruhepause datiert nur bis 22. 11.,
dann geht's schon wieder weiter, diesmal hoffentlich wirklich an unser
endgültiges Endziel, den Don! Dort wollen wir dann Winterquartier
beziehen! Liebliche Aussichten, gelt! Dabei herrschen aber hier jetzt schon
richtige Wintertemperaturen - zwischen - 10° und - 20° - an ein
Aufsitzen während der Märsche ist also nicht mehr zu denken, man
muß, ob man will oder nicht, der Kälte wegen unbedingt alles
marschieren!" Anfang Oktober hatten
die Deutschen die zirka 400 km südlich von Moskau liegende Stadt Orel
erobert; die Russen gingen am 17. November zur Gegenoffensive über. Der
deutsche Sturmangriff auf Moskau endete vor Weihnachten in der russischen
Kälte. Der Rückzug setzte im Grunde genommen bereits damals ein. Die
"Sieger von Frankreich" hatten sich zu "in Lumpen gehüllten Gespenstern"
gewandelt, "die im Schneesturm durch weisse Ebenen wankten".
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