Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE FRANKREICH

Wien, 28. April 1940

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Kommentar

Soeben hat mir der Briefträger Deinen Brief gebracht. Ich kann mit meinen Gedanken noch nicht zurechtkommen über alles das, was Du mir schreibst, es ist mir so fremd, Dich in einer solchen Umgebung zu wissen und unheimlich, ja wirklich unheimlich Es ist mir alles fremd, auch ich selber und meine Tätigkeit, ich gehe herum und tue alles, was ich muß, aber es ist mir wie im Traum.
Du schreibst, Du denkst über nichts mehr nach, das kann ich gut begreifen. Mit der Zeit und wenn Du eingewöhnt bist, werden auch die Gedanken zurückkommen Es wäre mir dann vor allem lieb und wichtig, wenn ich von hier aus Deine Gedanken führen und lenken könnte, Dir von hier aus Anregungen geben könnte, damit Du nicht so sehr auf andere Quellen angewiesen seiest. Das will ich absolut nicht. lch kann mir denken, in welch kleinem Kreis sich die Gedanken von Männern bewegen, die vielleicht schon monatelang aus ihrem Privatleben herausgerissen sind und nur mehr den winzigen Horizont der Front haben. Alle Mittel dagegen, die man anwendet, z. B. Filmvorführungen, Vorträge, Unterhaltung, beschränkte Lektüre usw. sind nur Ersatzmittel und können das wirkliche, vielseitige Leben nicht ersetzen, da die meisten auch noch recht einseitig sind.
Lieber Spatz, Du bist jetzt an einem Punkt Deines Lebens angelangt, der sehr entscheidend ist. Jetzt muß sich ein inneres Ziel vor Dir auftun, Deine innere Erlebnisfähigkeit entwickelt werden. Alles, was man äußerlich erlebt, hat nur insofern Wert, als man es innerlich richtig verarbeiten kann. Ich weiß es und Du hast es oft gesagt, daß Du nicht sehr gut geeignet bist, innerlich zu leben. Dein bisheriges Leben hat es auch nicht notwendig gemacht, zu dieser verstärkten inneren Erlebnisfähigkeit zu kommen. Du warst immer in einem abwechslungsvollen Getriebe, warst nie einsam und allein, ich war immer bei Dir und konnte Dir alles äußerliche Geschehen innerlich deuten, Du warst nie in Gefahr, in Äußerlichkeiten aufzugehen, das konnte Dir an meiner Seite nicht geschehen.
Nun bist Du plötzlich ganz auf Dich gestellt, unter Fremden, in eine Maschinerie eingeschaltet, die ganz auf äußerliches Funktionieren abgestellt sein muß. Die Einseitigkeit und Langeweile des Bunkerlebens kommt dazu. Der plötzlich in diese fremde Atmosphäre hineingestellte Einzelmensch wird von diesem äußeren Ablauf des Tageslebens überwältigt, er kann leicht seinen Geist aufgeben, wenn er ohnehin nicht viel gehabt hat. Der Zusammenhang mit der weiten Welt ist abgerissen, von zuhause kommen nur Nachrichten über alltägliche, kleinliche Ereignisse, das Produkt von alledem wäre ein armseliger Mensch. Nein, Du mußt Dir jetzt über verschiedene Fragen klar werden. Du hast Deine Pflicht zu erfüllen, restlos. Wenn Du eine Arbeit hast, die Dich freut, hast Du schon viel gewonnen. Zu Deinen Kameraden sei freundschaftlich und zuvorkommend in äußeren, aber zurückhaltend in allen außerdienstlichen Dingen. Dein Privatleben und Deine Vergangenheit gehören einzig Dir allein. Denk an alles, was war und was Du erlebt hast, was Du erhofft und erstrebt hast und wie weit und schön die Welt ist und all die Kultur darin und laß Dich von der Gegenwart nicht unterkriegen. Die Vergangenheit und die Zukunft bedeuten eigentlich alles, die Gegenwart ist nichts.
Du kannst Dich bestimmt ein bißchen an mein Rezept halten, denn ich habe es durch einige Monate, seit Du eingerückt bist, erprobt und ich sehe, um wieviel ich besser daran bin als andere Frauen, die jetzt auch allein sind. Jedes unsinnige Gerücht glauben sie und sind Stammkunden bei der Kartenaufschlägerin. Unglücklich bin ich nur darüber, daß ich Dich in Gefahr weiß. Ich selbst bin eigenartig ruhig oder es sieht nur so aus, zum Unterschied von anderen Frauen, die dahingelebt haben und über die das Ungliick so plötzlich hereinbrach, ohne daß sie genug darauf vorbereitet waren. Uns und besonders mir war das Unglück seit langer, langer Zeit gegenwärtig, ich spürte es voraus und daher hat sich auch die Angst und Verzweiflung auf viel längere Zeiträume erstreckt. Mein Unglück, unser Unglück, wird auch nicht aufhören, wo es für viele andere wird aufzuhören scheinen. Aber dieser Zustand kann nicht bezeichnet werden mit dem Begriff Fatalismus, sondern eher mit einer Ausgeglichenheit, die sowohl über die vergänglichen als auch über die unvergänglichen Dinge in der Welt Bescheid weiß. Alles ist vergänglich und wandelbar, nur der Charakter und die Art der Lebensanschauung ist unwandelbar. Und dann gibt es so viele Dinge, die das innere Leben bereichern können, so viele, daß mir bang ist, ob mein Leben lang genug dauern wird, um nur die von mir begehrtesten zu erreichen. Da lese ich z. B. die Bücher von Senghofer. Da war ein Reisebuch über Serbien. Es tut sich vor meinem Blick eine ganz und gar fremde Welt auf, Namen werden lebendig, die man noch nie gehört hat und trotzdem ist dies alles Geschichte und genauso hundert- und tausendjährig als die uns bekannte deutsche oder italienische Geschichte.
Weißt Du, das stelle ich mir immer als das Schönste in unserer Zukunft vor: Wir bereisen irgendeine Gegend oder ein Land, ich denke gar nicht an Außereuropa, da doch Europa selbst so unerhört interessante Länder und Völker umfaßt, Du fotografierst, filmst und zeichnest und ich besorge den kulturpolitischen und sprachlichen Teil. Da ist Serbien und Bulgarien, oder Rumänien, Rußland, Lettland, Litauen, Estland, Finnland, Schweden, Norwegen; ein Lebensprogramm. Wenn erst Friede ist!!


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen