Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE RUSSLAND II

Wien, 28. Jänner 1943

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Kommentar

Gestern abend waren Minnie, Dr. Melas und Kollege Samt hier auf Besuch. Ich hatte zum Nachtmahl Erdäpfelgulasch gemacht und eine kleine Dose Büchsenfleisch dazugemischt. Nachher gab es Brötchen mit Sardinen, und Minnie hatte noch 10 dkg Wurst dazu gestiftet. Ein paar Bäckereien und die 2 Literflasche Chianti bildeten den Abschluß. Es war wirklich sehr nett und angeregt, wir spielten Schallplatten, es wurde auch ein bißchen, nicht sehr viel, getanzt. Der Wein, von dem ich natürlich gar nichts getrunken habe, hat bald seine Wirkung getan, aber es blieb bis zum Abschluß alles in sehr anständigen und vertretbaren Grenzen.
Minnie und ich saßen links und rechts von Dr. Melas, wobei er uns sehr brüderlich in seine Arme nahm, und wir haben uns sehr bequem an ihn angeschmiegt und in dieser Stellung Schallplatten gehört, allerlei Erinnerungen ausgetauscht, Witze erzählt und alle möglichen Tagesereignisse besprochen. Nach der Melodie von "Lamberts Nachtlokal" tanzte Melas mit Minnie einen sehr gelungenen Figurentanz, wo man in die Hände und auf die Schenkel klatschen muß, und das war sehr hübsch zum Ansehen. Kollege Samt hat mich besonders aufs Korn genommen, denn er kennt mich jetzt an die 15 Jahre und hatte, wie er gestern erklärt hat, immer eine ganz besondere und ihm eigentlich merkwürdig vorkommende Hochachtung für mich gehabt, und diese hat sich nun verstärkt auch noch durch den gestrigen Abend. Er ist ein grosser Frauenfreund und Frauenkenner, eine Art Don Juan, aber ich bin ihm doch ein Rätsel. Nun, damit muß er sich zufriedengeben, ich bin und bleibe eben, was ich bin, nüchtern gegen Blödeleien, aber wirklich hingerissen und begeistert von Dingen, die mein inneres Leben und meine Ideale berühren.
Wenn man den Dr. Melas kennt und durchschaut, sowie ich ihn jetzt durchschaue, kann man ganz gut mit ihm auskommen und wird einen Umgang mit ihm anregend und vielleicht auch ein bißchen pikant finden. Er ist der geborene Routinier, aber von zwei Trieben scheinbar ganz besessen: Von Erotik und Musik. Punkto Erotik läßt er mich ganz kalt, punkto Musik bin ich viel zu ungebildet, um mit ihm mitzukönnen.
Die arme Minnie tut mir leid. Mir ist schon einigemale im Kurs aufgefallen, daß sie so besonders schlecht und verändert aussieht. Auch gestern fühlte sie sich zuerst gar nicht wohl. Als aber dann die Gäste kamen, vergaß sie alle Beschwerden, trank reichlich und rauchte Zigaretten und gab sich so, als wäre sie pumperlgesund. Als die beiden Männer um ¾ 12 Uhr weggingen, blieb sie bei mir über Nacht, und da klappte sie ganz zusammen. Ich bin sehr besorgt um sie, denn sie scheint ernstlich krank zu sein. Die paar Jahre, wo sie allein in Berlin lebte, ohne ordentliches Essen, angewiesen auf das magere, gänzlich fettlose Essen aus Gemeinschaftsküchen, dabei überarbeitet, da sie ständig abends Nebenbeschäftigungen ausübte, z.B. Maschinschreiben und Steuerbuchhaltung, das rächt sich jetzt eben. Sie ist im Grund genommen ein wirklich armer, armer Mensch, bei diesen Familienverhältnissen, und ich fürchte, sie wird ein trauriges Ende nehmen. Man kann es aus diesem Grunde vielleicht verstehen, daß sie so lebenshungrig ist, denn in ihrem Fall sind es vielleicht wirklich nur noch ein paar Jahre, und dann ist es aus mit ihr. Mir ist ihr unruhiger Gemütszustand manchmal ganz begreiflich.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen