Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE MÜNSTERBERG

Wien, 25. September 1940

Bild klickbar



Kommentar

Heute war ich bei der Holzfirma und man hat mir versprochen, daß ich am Freitag die Lieferung bekomme. Außerdem war ich auf der Kartenstelle um einen Bezugschein für Schuhe. Man hat mir gesagt, ich werde die Erledigung schriftlich durch die Post erhalten. Mit diesen zwei Besorgungen ist heute der ganze Nachmittag bis in den Abend vergangen.
Heute war Anny J. bei mir im Büro, da sie mit ihrem Anwalt in der bewußten Sache bei Gericht zu einer Vorsprache erscheinen mußte. Sie ist noch immer ganz verstört und hat mir überdies erzählt, daß sie im Büro zum Vertrauensmann vorgeladen wurde, der ihr sagte, der ganze Vorfall sei ihm zur Kenntnis gelangt und er hätte das Recht, bei der Direktion ihre fristlose Entlassung zu beantragen und die Direktion würde dem auch sofort zustimmen. Er will aber noch warten, bis das Verfahren abgeschlossen ist. Sie sagt, diese Unterredung wäre für sie fürchterlich gewesen. Ich habe sie zu trösten versucht und ihr vor Augen gehalten, daß es nicht das Schlimmste ist, von dort wegzukommen, denn die ganze Situation dort scheint ja doch unhaltbar zu werden. Wenn sie woanders arbeitet, wird sie endlich Ruhe haben vor den Verfolgungen und wird direkt aufatmen, genau so wie es mir gegangen ist. Denn auch ich möchte um keinen Preis der Welt mehr unter diesen Kollegen dort sein.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen