Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE MÜNSTERBERG

Wien, 23. September 1940

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Kommentar

Spatzili, es ist wirklich allen Ernstes zum Weinen, daß ich jetzt, wo es möglich wäre, nicht bei dir sein kann. Ich darf wirklich gar nicht daran denken, wie gut es andere Frauen haben, sonst werde ich noch mehr verbittert und es hilft doch alles nichts. Weißt Du, mit der Zeit verliere ich bald das Interesse an allem. An allem, was mit Politik und Öffentlichkeit zusammenhängt. Ich habe heute einen sehr netten Brief bekommen von meiner Bekannten aus Bregenz, bei der ich einmal auf Besuch war, erinnerst Du Dich? Sie war mir immer sehr sympathisch und ich freue mich, daß wir wieder Kontakt gefunden haben.
Heute war ich bei Frau Stärk und es ist halt immer derselbe Jammer, nicht nur das, es kommt immer wieder ein neuer dazu. Neuestens besteht wieder Grund zur Befürchtung, daß sie das Zimmer verliert oder jemanden hineinnehmen wird müssen oder daß überhaupt alle aus der Wohnung herausmüssen. In ihrer Konfusität hat sie gestem außerdem ihre Geldbörse verloren mit annähernd 20 Mk bei ihren finanziellen Verhältnissen! Die Operation wird auch immer dringender und dabei hat sie doch kein Geld, um Arzt und Spital zu bezahlen.
Außerdem habe ich heute Anny J. getroffen und bin mit ihr ein bißchen spazierengegangen. Diese hat nun wieder etwas ganz besonders Unangenehmes erlebt. Sie hat zwei Urlaubstage dazu verwendet, um aufs Land zu Bekannten zu fahren und sich einige Lebensmittel mitzubringen. Sie wurde aber angezeigt und bei ihrer Heimkehr sofort gestellt, sie mußte mit aufs Kommissariat, Hausdurchsuchung, Beschlagnahme und Verfahren. Sie ist ganz verzweifelt und zittert noch vor Aufregung.

Du liebes Spatzi sollst nicht traurig sein, sondern sollst schauen, auch Deine Zeit so angenehm und nützlich als möglich zu verbringen. Kümmere Dich nicht viel darum, was um Dich vorgeht, es ist außer Deinem guten und reibungslosen Fortkommen beim Militär und außer einem guten Einvernehmen mit Deinen Vorgesetzten gar nichts so wichtig, daß Du Dich darum kümmern müßtest. Mit Deinen Kameraden schau, daß Du gut auskommst, aber ansonsten kümmere Dich nicht viel um sie. Es wird niemand darunter sein, bei dem es sich lohnen würde, näher mit ihm bekannt zu werden. Menschen wie wir werden durch die heutigen Zeiten in eine ganz bestimmte Entwicklung persönlicher Art hineingedrängt. Das Problem ist nur das, wie kommen wir mit der Umwelt und mit den Mitmenschen am besten aus, ohne daß wir allzuviel mit ihnen zu tun haben.
Ich wundere mich wirklich, daß Dir die Stadt Breslau so gut gefallen hat. Ich bin momentan nicht sehr geneigt, irgendeiner deutschen Stadt etwas Gutes zuzubilligen.


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