Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE POLEN

Wien, 22. Juni 1941

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Kommentar

Du kannst Dir wohl denken, mit welcher Angst ich an die kommenden Wochen denke. Wiewohl auf alles gefaßt, ist es doch ein furchtbarer Schlag, wenn das Vorausgesehene eintrifft. Am meisten bin ich darüber beunruhigt, wie Du Dich in die neue Lage finden wirst, da Du scheinbar mit einer solchen Möglichkeit sehr wenig gerechnet hast und es für Dich ein furchtbares Erwachen gewesen sein muß. Wirst Du Dich schonen können? Denke bitte an mich und laß die andern machen.
Und das Wochenende hatte gestern so schön begonnen. Ich war wieder in Gaaden und ging abends noch zwei Stunden spazieren. Es war ein so heller klarer Tag, die Sonne schien so voll und die Wiesen waren so herrlich und der Abend so besonders friedlich. Ich sah zu, wie die Sonne unterging, es war der nördlichste Punkt, den sie je erreicht hat und sie näherte sich dem Untergang als eine große rotgoldene Scheibe und sie leuchtete mir geradezu ins Herz. Ich stand an einer Wiese, voll mit den herrlichsten Margeriten, Glockenblumen und der Klee duftete so süß, daß ich ganz andächtig wurde und mir der Gedanke einfiel, die Sonne sei nichts anderes als Gottes eigenes Auge, womit er die Welt betrachte. Und ich sagte in Gedanken ein Gebet: "Du Auge Gottes, welches auf die Welt herniederblickt, schenk ihr den Frieden. Schenk ihr einen gerechten Frieden."
Ich wartete so lange, bis die Sonne verschwunden war und ging dann rasch nach Hause. Und heute früh, als ich wach wurde, stand sie schon wieder hoch am Himmel. Ich ging nur über die Wiesen und immer weiter über Wiesen und am Waldrand und der Wald zeichnete sich ab mit den Silhouetten seiner Nadelbäume, ein jeder eine Erscheinung wie ein gotischer Dom. Um die Mittagsstunde kam ich in die Nähe von Menschen, im Helenental bei Baden und ich hörte einigemale die Lautsprecher, aber meiner Gewohnheit gemäß ging ich daran rasch vorüber, ohne zu hören, was gesprochen wurde, nur verwundert darüber, daß scheinbar endlose Reden gehalten wurden.
In Baden wollte ich ins Strandbad gehen, es war 1 Uhr mittags vorüber, hunderte Menschen standen und wollten Eintrittskarten haben, aber vergeblich, es war ausverkauft. Es bot sich für mich der Ausweg, eine Besucherkarte zu lösen, die aber nur zum Anschauen des Bades, nicht zum Baden berechtigt. Es ist kolossal groß und einfach herrlich angelegt. Nachdem ich alles besichtigt hatte, ging ich wieder hinaus, sah aber sowohl beim Hinein- wie auch beim Herausgehen eine Menge Leute vor einer Lautsprecheranlage stehen, habe aber weder durch ein Wort aus dem Lautsprecher noch durch irgendwelche Bemerkungen oder Gespräche der Leute erfahren, daß etwas Wichtiges vorgefallen ist.
Erst in der Badener Elektrischen, als ich um zirka 3 Uhr einstieg, um nach Hause zu fahren, hatte ein Herr eine Zeitung, aus der ich die Neuigkeit aus den Überschriften ablesen konnte. Auf der Philadelphiabrücke angekommen, kaufte ich mir ebenfalls eine Zeitung, um alles zu erfahren.
Mir ist nun sehr traurig zumute und ich gäbe viel dafür, wenn ich Dich wenigstens für kurze Zeit, hier haben und mit Dir sprechen könnte. Ich bin mit Gott so im reinen, daß ich das Gefühl habe, Dir und mir - uns beiden kann nix gschehen!


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