Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE RUSSLAND II

Wien, 21. Jänner 1943

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Kommentar

Denkst Du noch oft an alles, was wir gemeinsam unternommen haben? Ich war von allem restlos zufrieden, nur daß diese 20 Tage so furchtbar rasch vergangen sind, das macht mich jetzt noch traurig. Wir hätten unsere Zeit noch besser ausnützen sollen. Aber ich glaube, schuld daran war der Winter, daß wir relativ so viel Zeit verschlafen haben, weil es am Morgen so lange finster war, und kalt war es außerdem immer. Deswegen möchte ich so furchtbar gerne, daß Dein nächster Urlaub in den Sommer oder mindestens Herbst fällt.
Ich weiß, welches mein Fehler ist: bei mir geht alles langsam, aber sicher. Ich bin kein Mensch für kurze Episoden, sondern lebe in langen Zeiträumen. Da erst kann ich Vorzüge entwickeln. Drei Wochen sind für mich zu kurz, um in Schwung zu kommen, schon gar nicht, wenn ich das Ende dieser Zeit mit Angst herannahen fühle. Leute, die mich nur kurz kennen, haben gewöhnlich ein falsches Bild von mir.
Ich denke an die Tage des Urlaubes und alles, was Du erzählt, geschildert, gesprochen, gefragt, gefordert und gewährt hast. Du hast so lieb erzählt von Eurem Leben draußen, von allen den vielen kleinen Begebenheiten, von der kleinen Katze und dem Hund, von dem Gefangenen, der taubstumm geworden ist, von Eurer Kameradschaft zu viert und von Deiner Arbeit. Erinnerst Du Dich noch, als wir im Kaffeehaus saßen zu Silvester, bevor wir ins Kino gingen? Da hast Du nur für mich gesprochen, nicht wie sonst, wo Du im größeren Familienkreis erzählt hast. An diesem Abend war ich besonders glücklich, weil Du so aus Dir herausgegangen bist. Schade, daß wir nicht öfter zu zweit ins Kaffeehaus gegangen sind. Da hätte sich mein Herz mehr gelöst als bei den vielen Besuchen, die wir gemeinsam gemacht oder empfangen haben.
Warum haben wir so viel Zeit für andere und so wenig für uns selbst und unsere eigenen Angelegenheiten verwendet. Heute weine ich um jede verlorene Stunde.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen