Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE MÜNSTERBERG

Wien, 20. Oktober 1940

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Kommentar

Jetzt ist mir scbon so scbrecklich bang nach Dir, daß ich es gar nicbt sagen kann, wie. Diese Woche war leider eine schwarze Woche, was unsere gegenseitige Korrespondenz betrifft.
Gestern, Samstag, war ich gleich nach dem Büro bei Hilde. In R.-Angelegenheit ist noch nichts entschieden, die Verhandlung wurde angeblich auf November verschoben. Ich war bis zirka ½ 5 Uhr dort und davon fast eine Stunde mit Herbert spazieren.
Ich freue mich sehr, daß Du Gelegenheit hast, Dich ein bißcben zu vergnügen so wie bei Deinem letzten "Wiener Abend". Ich bin auch froh, daß Du scheinbar nette Leute dort hast, mit denen Du sprechen und Dich unterhalten und Sport betreiben kannst. Vergiß nur nicht, liebes Spatzili, ganz auf unsere Probleme und verliere nicht ganz das Interesse für die allgemeinen Dinge wie Krieg usw., denn wenn wir auch für diese Dinge im Moment nichts übrig haben, so beeinflussen sie doch so sehr unser Leben, daß wir immer achtgeben müssen, was sich daraus entwickelt. Du wirst ja momentan gar keinen Einblick haben in die Stimmung der Volksschichten, besonders der unteren, denn Deine zivilen Bekannten, die Geschäftsleute, werden vielleicht im allgemeinen ganz zufrieden sein. Aber hier bei uns ist die Stimmung momentan wieder sehr schlecht und kritisch. Die Leute beklagen sich alle sehr bitter. Wenn jeder so beginnen wollte, seine Erfahrungen im Betrieb, im Bekanntenkreis und sonstwo zu schildern, so ergäbe das ein endloses Bild von Enttäuschung, Bitterkeit, Ärger, Trostlosigkeit und Mutlosigkeit.
Deine wohlhabenden neuen Bekannten dort, die Geschäftsleute mit ihrem sicheren Besitz von Häusern und Geschäften und einigem Vermögen spüren doch sicherlich nicht so sehr das Elend der arbeitenden Schichten in der Großstadt. Du sollst Dich daher immer bemühen, die jetzigen Verhältnisse nicht aus dem Gesichtswinkel der Münsterberger Provinzintelligenz zu beurteilen, aber doch Deine Kritik für Dich behalten.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen