Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE POLEN

Wien, 20. Juli 1941

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Kommentar

Ich bin also jetzt wieder zu Hause und wieder allein. Es ist schon traurig, wenn man so von einem Urlaub zurückkommt spät in der Nacht und niemand wartet auf einen. Aber doch, es hat doch etwas auf mich gewartet und das war dein lieber Brief. Und so ein liebes Gedicht hast Du mir geschickt, ich danke Dir dafür! Wenn Du wüßtest, in welcher Stimmung ich die zwei letzten Tage gewesen bin. Wir kamen aus dem Starkenbachtal herunter auf die Straße nach Landeck.
Es war dieselbe Straße, auf der wir beide, Du und ich vor 8 Jahren im Jahre 1933 von Schönwies (Imst) ebenfalls nach Landeck zu Fuß gegangen sind, erinnerst Du Dich noch? Sollte es noch einmal dazu kommen, daß wir wieder miteinander wandern können, so könnte ich niemals wieder so harmlos glücklich sein, es wird immer eine Angst in mir sein, dieses Glück wieder zu verlieren.
Ich will Dich, mein liebstes Spatzilein, gewiß nicht traurig machen, denn Du bist ja noch viel ärmer dran. In dem Rock, den Du tragen mußt, kann die Welt überhaupt nicht mehr sonnig und fröhlich aussehen. Ich komme mir oft so schwach und feige vor, weil ich diesem Krieg so beharrlich aus dem Wege gehe, nichts von ihm spüre und so durch und durch von ihm krank bin. Und Du mußt aber doch mitten darin stehen, Du kannst ihn nicht ignorieren, wie machst Du das nur? Ist es, weil Du ein Mann bist? Oder kann man sich auch an diese Dinge gewöhnen, wenn einem nichts anderes übrigbleibt?
Ich will Dir nun Näheres über meine Urlaubsreise berichten. Sonntag, den 6. Juli und den folgenden Montag bis Dienstag mittag war ich in München. Ich fuhr am Dienstag, den 8. Juli, weiter über Kempten und den Allgäu zuerst nach Lindau und gleich weiter nach Bregenz. In Bregenz erwartete mich Fanny. Ich habe sie doch seit 8 Jahren nicht mehr gesehen und trotzdem sofort erkannt, sie mich nicht (sie ist sehr stark kurzsichtig, trägt aber keine Brille). Wir waren uns unwillkürlich ein bißchen fremd, aber sie wurde mir sehr bald sympathisch. Sie sagte mir, daß sie mich in Lochau (eine Vorstadt von Bregenz) bei Bekannten in einem reizenden Häuschen einquartiert hätte. Wir mußten daher ein Schiff besteigen und acht Minuten nach Lochau fahren. Nachdem ich mich gewaschen und umgezogen hatte, machten Fanny und ich einen Spaziergang den Berg hinauf und auf einer Bank mit herrlicher Aussicht saßen wir und aßen das von Fanny mitgebrachte Nachtmahl.
Wir erzählten uns alle Neuigkeiten, die sich in den letzten acht Jahren ereignet hatten und das war nicht wenig. Fanny und ihre Familie hatten sehr viel durchzumachen. Sie selbst war wiederholt eingesperrt, einmal sogar dreieinhalb Monate, auch ihr Vater. Ich wundere mich und sie selbst wundern sich auch, daß sie das alles hat überstehen können. Sie wird auch heute nicht in Ruhe gelassen, immer tauchen neue Schikanen auf, die sie über sich ergehen lassen muß. Ich werde Dir gewiß noch davon erzählen.
Am nächsten Vormittag machte ich einen Spaziergang den Pfänder hinauf bis zur halben Höhe. Nachmittags traf ich mich mit Fanny und wir fuhren den Pfänder hinauf.
Fanny mußte um 6 Uhr wieder im Büro sein (sie hatte sich nachmittag frei genommen und mußte die Zeit am Abend wieder einbringen) und ich begleitete sie dahin. Da sie bei einer Baufirma arbeitet, die ihre Büros in Holzbaracken hat, so besichtigte ich auch die Barackenanlage und sie stellte mich auch ihrem Vorgesetzten vor, der ein sehr lieber und sympathischer Herr war.
Fanny nahm mich mit in die Kantine zum Nachmahlessen. In einer großen Baracke saßen die Arbeiter (meistens italienische) und französische Gefangene. Wir beide waren die einzigen Frauen. Es gab geröstete Kartoffeln mit Fleischstückchen vermischt und grünen Salat und es schmeckte mir sehr gut.
Danach gingen wir zu Fannys eigentlichem Arbeitsplatz, das ist eine kleine Bauhütte noch weiter außerhalb der Stadt, wo große Bauten aufgeführt werden. Auf dem Weg dahin zeigte sie mir die vor ein paar Jahren neuerbaute Kirche von Klemens Holzmeister. Am Donnerstag Vormittag ging ich wieder allein in den Wald und nachmittag ins Strandbad nach Lochau baden. Um 7 Uhr kamen Fanny und ein Bekannter von ihr.
Wir führten in sehr angenehmer Weise ein ernstes Gespräch, dann fuhr der Mann auf seinem Rad nach Bregenz zurück, Fanny und ich blieben noch zusammen bis zu ihrem letzten Zug.
Am Samstag fuhr ich schon zeitlich früh nach Bregenz hinüber. In der "Oberstadt" befindet sich auch das Gefängnis, das mir Fanny von außen zeigte. Wir bestiegen den Turm einer Kirche und dann führte mich Fanny zu dem berühmten Schloß der Grafen von Montfort, die ehemals Bregenz und das ganze Land beherrschten. Sie erzählte mir, daß sie einmal, als sie auch eingesperrt war, zufällig durch drei Wochen mit der Schloßbesitzerin, die damals die illegale Gaufrauenleiterin der Nazi in Vorarlberg in der Systemzeit war, gesessen ist. Sie hat sich damals mit der Frau Gräfin angefreundet sowie mit deren Kindern und hat daher im Schloß jederzeit willkommenen Zutritt. Dadurch war es mir möglich, dieses wunderschöne uralte Schloß buchstäblich vom Keller bis zum Boden in allen Räumen zu besichtigen, was mir ein unvergeßlicher Eindruck bleiben wird.
Am nächsten Morgen mußte ich packen und mit dem Rucksack ausgerüstet fuhr ich mit dem Schiff nach Lindau und um 11.40 Uhr erwartete ich Deinen Vater am Bahnhof. Er brachte mir Deinen lang und heiß ersehnten Brief. Ich fuhr mit Vater nach Bregenz, dort erwartete uns Fanny am Bahnhof und wir fuhren in einer halben Stunde mit der schmalspurigen Bregenzerwaldbahn gleich weiter. In Reuthe, der vorletzten Station, befand sich Fannys Schwester mir ihrem siebzehn Monate alten Kind Herbert und noch drei Frauen ebenfalls mit Kindern. Diese vier Frauen hatten dort ein Bauernhaus gemietet und wirtschaften dort schon seit 6 Wochen, da von allen 4 Frauen die Männer eingerückt und an der Front sind. Fanny schlief mit mir in einem Zimmer, mußte aber zeitlich früh aufstehen, um den ersten Zug nach Bregenz zu erreichen.
Ich begleitete sie zur Bahn und so nahmen wir Abschied, wieder vielleicht für viele Jahre, wer weiß es? Ich kann nur das eine sagen, daß ich in Fanny einen lieben, oder besser gesagt einen besonders lieben, einfachen, herzensguten und gescheiten Menschen getroffen habe, der mir in den paar Tagen unseres Beisammenseins soviel an Liebe, Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und Lebenserfahrung geschenkt hat, daß ich aus dem Staunen nicht herauskam. Ich habe es nicht nur nicht zu bereuen, daß ich zu ihr gefahren bin, sondern ich zähle diesen Aufenthalt zu den schönsten und angenehmsten in meinem Leben. Fanny ist klug und ernst und tüchtig und ich könnte viel von ihr lernen. Sie ist 10 Tage älter als Du, am 13. Mai 1910 geboren.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen