|
Ich bin also jetzt wieder zu
Hause und wieder allein. Es ist schon traurig, wenn man so von einem Urlaub
zurückkommt spät in der Nacht und niemand wartet auf einen. Aber
doch, es hat doch etwas auf mich gewartet und das war dein lieber Brief. Und so
ein liebes Gedicht hast Du mir geschickt, ich danke Dir dafür! Wenn Du
wüßtest, in welcher Stimmung ich die zwei letzten Tage gewesen bin.
Wir kamen aus dem Starkenbachtal herunter auf die Straße nach Landeck.
Es war dieselbe Straße, auf der wir beide, Du und ich vor 8 Jahren im
Jahre 1933 von Schönwies (Imst) ebenfalls nach Landeck zu Fuß
gegangen sind, erinnerst Du Dich noch? Sollte es noch einmal dazu kommen,
daß wir wieder miteinander wandern können, so könnte ich
niemals wieder so harmlos glücklich sein, es wird immer eine Angst in mir
sein, dieses Glück wieder zu verlieren. Ich will Dich, mein liebstes
Spatzilein, gewiß nicht traurig machen, denn Du bist ja noch viel
ärmer dran. In dem Rock, den Du tragen mußt, kann die Welt
überhaupt nicht mehr sonnig und fröhlich aussehen. Ich komme mir oft
so schwach und feige vor, weil ich diesem Krieg so beharrlich aus dem Wege
gehe, nichts von ihm spüre und so durch und durch von ihm krank bin. Und
Du mußt aber doch mitten darin stehen, Du kannst ihn nicht ignorieren,
wie machst Du das nur? Ist es, weil Du ein Mann bist? Oder kann man sich auch
an diese Dinge gewöhnen, wenn einem nichts anderes übrigbleibt?
Ich will Dir nun Näheres über meine Urlaubsreise berichten.
Sonntag, den 6. Juli und den folgenden Montag bis Dienstag mittag war ich in
München. Ich fuhr am Dienstag, den 8. Juli, weiter über Kempten und
den Allgäu zuerst nach Lindau und gleich weiter nach Bregenz. In Bregenz
erwartete mich Fanny. Ich habe sie doch seit 8 Jahren nicht mehr gesehen und
trotzdem sofort erkannt, sie mich nicht (sie ist sehr stark kurzsichtig,
trägt aber keine Brille). Wir waren uns unwillkürlich ein
bißchen fremd, aber sie wurde mir sehr bald sympathisch. Sie sagte mir,
daß sie mich in Lochau (eine Vorstadt von Bregenz) bei Bekannten in einem
reizenden Häuschen einquartiert hätte. Wir mußten daher ein
Schiff besteigen und acht Minuten nach Lochau fahren. Nachdem ich mich
gewaschen und umgezogen hatte, machten Fanny und ich einen Spaziergang den Berg
hinauf und auf einer Bank mit herrlicher Aussicht saßen wir und
aßen das von Fanny mitgebrachte Nachtmahl. Wir erzählten uns
alle Neuigkeiten, die sich in den letzten acht Jahren ereignet hatten und das
war nicht wenig. Fanny und ihre Familie hatten sehr viel durchzumachen. Sie
selbst war wiederholt eingesperrt, einmal sogar dreieinhalb Monate, auch ihr
Vater. Ich wundere mich und sie selbst wundern sich auch, daß sie das
alles hat überstehen können. Sie wird auch heute nicht in Ruhe
gelassen, immer tauchen neue Schikanen auf, die sie über sich ergehen
lassen muß. Ich werde Dir gewiß noch davon erzählen. Am
nächsten Vormittag machte ich einen Spaziergang den Pfänder hinauf
bis zur halben Höhe. Nachmittags traf ich mich mit Fanny und wir fuhren
den Pfänder hinauf. Fanny mußte um 6 Uhr wieder im Büro
sein (sie hatte sich nachmittag frei genommen und mußte die Zeit am Abend
wieder einbringen) und ich begleitete sie dahin. Da sie bei einer Baufirma
arbeitet, die ihre Büros in Holzbaracken hat, so besichtigte ich auch die
Barackenanlage und sie stellte mich auch ihrem Vorgesetzten vor, der ein sehr
lieber und sympathischer Herr war. Fanny nahm mich mit in die Kantine zum
Nachmahlessen. In einer großen Baracke saßen die Arbeiter (meistens
italienische) und französische Gefangene. Wir beide waren die einzigen
Frauen. Es gab geröstete Kartoffeln mit Fleischstückchen vermischt
und grünen Salat und es schmeckte mir sehr gut. Danach gingen wir zu
Fannys eigentlichem Arbeitsplatz, das ist eine kleine Bauhütte noch weiter
außerhalb der Stadt, wo große Bauten aufgeführt werden. Auf
dem Weg dahin zeigte sie mir die vor ein paar Jahren neuerbaute Kirche von
Klemens Holzmeister. Am Donnerstag Vormittag ging ich wieder allein in den Wald
und nachmittag ins Strandbad nach Lochau baden. Um 7 Uhr kamen Fanny und ein
Bekannter von ihr. Wir führten in sehr angenehmer Weise ein ernstes
Gespräch, dann fuhr der Mann auf seinem Rad nach Bregenz zurück,
Fanny und ich blieben noch zusammen bis zu ihrem letzten Zug. Am Samstag
fuhr ich schon zeitlich früh nach Bregenz hinüber. In der "Oberstadt"
befindet sich auch das Gefängnis, das mir Fanny von außen zeigte.
Wir bestiegen den Turm einer Kirche und dann führte mich Fanny zu dem
berühmten Schloß der Grafen von Montfort, die ehemals Bregenz und
das ganze Land beherrschten. Sie erzählte mir, daß sie einmal, als
sie auch eingesperrt war, zufällig durch drei Wochen mit der
Schloßbesitzerin, die damals die illegale Gaufrauenleiterin der Nazi in
Vorarlberg in der Systemzeit war, gesessen ist. Sie hat sich damals mit der
Frau Gräfin angefreundet sowie mit deren Kindern und hat daher im
Schloß jederzeit willkommenen Zutritt. Dadurch war es mir möglich,
dieses wunderschöne uralte Schloß buchstäblich vom Keller bis
zum Boden in allen Räumen zu besichtigen, was mir ein unvergeßlicher
Eindruck bleiben wird. Am nächsten Morgen mußte ich packen und
mit dem Rucksack ausgerüstet fuhr ich mit dem Schiff nach Lindau und um
11.40 Uhr erwartete ich Deinen Vater am Bahnhof. Er brachte mir Deinen lang und
heiß ersehnten Brief. Ich fuhr mit Vater nach Bregenz, dort erwartete uns
Fanny am Bahnhof und wir fuhren in einer halben Stunde mit der schmalspurigen
Bregenzerwaldbahn gleich weiter. In Reuthe, der vorletzten Station, befand sich
Fannys Schwester mir ihrem siebzehn Monate alten Kind Herbert und noch drei
Frauen ebenfalls mit Kindern. Diese vier Frauen hatten dort ein Bauernhaus
gemietet und wirtschaften dort schon seit 6 Wochen, da von allen 4 Frauen die
Männer eingerückt und an der Front sind. Fanny schlief mit mir in
einem Zimmer, mußte aber zeitlich früh aufstehen, um den ersten Zug
nach Bregenz zu erreichen. Ich begleitete sie zur Bahn und so nahmen wir
Abschied, wieder vielleicht für viele Jahre, wer weiß es? Ich kann
nur das eine sagen, daß ich in Fanny einen lieben, oder besser gesagt
einen besonders lieben, einfachen, herzensguten und gescheiten Menschen
getroffen habe, der mir in den paar Tagen unseres Beisammenseins soviel an
Liebe, Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und Lebenserfahrung geschenkt hat,
daß ich aus dem Staunen nicht herauskam. Ich habe es nicht nur nicht zu
bereuen, daß ich zu ihr gefahren bin, sondern ich zähle diesen
Aufenthalt zu den schönsten und angenehmsten in meinem Leben. Fanny ist
klug und ernst und tüchtig und ich könnte viel von ihr lernen. Sie
ist 10 Tage älter als Du, am 13. Mai 1910 geboren. |