Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE FRANKREICH

Wien, 19. Juni 1940

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Kommentar

Du schreibst, welches die Ansicht hier über Italien ist und was ich darüber denke. Nun, gerade diese Tatsache hat mich eigentlich wenig aufgeregt. Ich habe die ganzen Radioberichte und Reden darüber nicht gehört und erfuhr es nur zufällig und dadurch habe ich mich in Gedanken eigentlich wenig damit beschäftigt. Den Grund dafür weiß ich ja nicht und es ist auch für einen Außenstehenden schwer, sich das richtige Motiv auszudenken. Entweder es ist die Sucht, in letzter Minute sich einzuschalten, um etwas zu ergattern, da ja die Niederlage Frankreichs schon offensichtlich war, oder es war die Angst, daß er als Außenstehender von Deutschland nicht berücksichtigt werden würde oder irgend etwas sonst. Vom nationalegoistischen Standpunkt gewiß begreiflich, vom allgemeinen und charakterlichen Standpunkt aber schäbig und verächtlich.
Ansonsten kann ich nur sagen, daß ich mich wundere, wieviel Sympathie allerorten für Frankreich herrscht, in allen Kreisen eigentlich, von mir gar nicht zu reden. Nun scheint doch endgültig eine neue Epoche in Europa und auch sonst in der Welt anzubrechen und man kann nur gespannt sein, was für ein Gesicht diese Epoche haben wird, es gibt auch von unserem Standpunkt aus Möglichkeiten, daß dies alles doch noch erträglich wird, wenn Haß und Rachegefühle in Schranken gehalten werden und nicht eine unvernünftige und unhaltbare Ausrottungspolitik betrieben wird.
Ich hege eigentlich die Hoffnung - es kann auch nur eine vorübergehende Stimmung sein -, daß doch etwas Gutes und Vernünftiges herauskommt, aber man hat ja schon manche Überraschungen erlebt. Was bleibt uns jetzt übrig als abzuwarten? Ich bin eigentlich froh, daß es mir immer wieder gelingt, wenn auch unter schweren Kämpfen, einen Anschluß an die Tatsachen zu finden, der keinen Verrat an unveräußerlichen persönlichen Idealen und Ansichten bedeutet. Zu den Ewiggestrigen gehöre ich wahrlich nicht, aber auch nicht zu jenen, die sich ihre Ideale um ein Nichts oder um weniger als ein Nichts abkaufen lassen. Theorien haben heute keinen Sinn, heute geht es wirklich nur um Anständigkeit und Kultur. Und diese beiden Dinge werde ich mir unter allen Umständen bewahren.
Es wäre mir sehr erwünscht, mit Dir über alle diese Dinge lange und gründlich mich auszusprechen und es ist so schade, daß wir so entscheidende Dinge erleben und nie darüber sprechen können. Aber Du kannst Dich darauf verlassen, daß ich mich im Geiste umso ofter mit Dir darüber unterhalte und meine Einstellung immer erst dann fasse, wenn ich glaube, daß auch Du damit einverstanden sein könntest. Ich hoffe, daß unsere lange Trennung und die außergewöhnlichen Ereignisse, die sich während dieser Zeit abgespielt haben, keine Entfremdung auf diesem Gebiet, auf dem Gebiet der Weltanschauung, herbeigeführt haben und daß wir, wie immer in der Vergangenheit, zusammenstimmen werden.
Sonst möchte ich Dir noch berichten, daß ich Sonntag einen sehr schönen Ausflug gemacht habe und zwar mit Minnie Schüller. Ich habe den Ausflug deswegen gemacht, urn mich von meiner mir schon unerträglichen Stimmung herauszureißen und auch Dir zuliebe, damit ich wieder imstande sei, Dir einen frohen und angenehmen Brief zu schreiben, damit Du Dir nicht immer mein Gejammer anhören mußt. Also, der Zweck wurde wirklich hundertprozentig erreicht.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen