Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE HINTERLAND

Wien, 17. Oktober 1943

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Kommentar

Und nun, mein liebes, kleines süßes Spatzilein, bin ich wieder zu Hause, aber mit meinen Gedanken und mit meinem Herzen mehr noch in Pyrmont als hier. Du wirst nun wissen wollen, wie ich die Reise überstanden habe. Die Fahrt war schön, und ich habe mir alles genau angeschaut. In Brandenburg ist es finster geworden, und um Punkt 7 Uhr sind wir am Potsdamer Bahnhof angekommen. Ich war schon aufgeregt, ob ich den Anschluß erreiche. Da in Braunschweig unser Zug gekürzt worden war, war unser Waggon einer der letzten, und wir mußten in dem furchtbaren Gewühl uns bis zum Ausgang den ganzen Zug entlang bis zur Sperre und durch diese hindurchdrängen und gingen über den Platz zur U-Bahn hinunter. Bei der Friedrichstraße stieg ich wieder aus, dort die Stiegen hinauf in ein anderes Stockwerk, dort fuhr gerade ein Zug ein, so fuhr ich bis Zoo, dann wieder die Stiegen hinunter zum Fernbahnhof, da war es gerade 19.27, und um 19.32 sollte der Zug gehen. Vor dem Zug war ein fürchterliches Gedränge, der Bahnsteig ist dort so schmal, dazu stand noch wahnsinnig viel Militär in voller Ausrüstung herum, beim Schlafwagen war natürlich keine Rede davon, große Debatten anzufangen, das gab ich gleich auf und trachtete, irgendwo in eine dritte Klasse unterzukommen. Dann wollte ich während der Fahrt zum Schlafwagen vorgehen.
Am Bahnhof Friedrichstraße wieder ein furchtbares Gewühle, und gleich nach der Abfahrt von Friedrichstraße versuchte ich schon durchzukommen, was sich aber als gänzlich aussichtslos herausstellte. Ein paar Schritte bin ich gekommen, dann war es ausgeschlossen, weiterzukommen, obwohl ich mich mit Gewalt durchdrängen wollte und alle über mich hergefallen sind. Nicht einmal aussteigen konnte ich. Ich mußte den Versuch aufgeben, obwohl ich mir dachte, daß ich den Schlafwagen bezahlt habe, und mußte froh sein, wenigstens einen Sitzplatz zu haben. Nicht einmal zum Klo konnte man durchkommen. Mit einer Verspätung von 30 Minuten kamen wir am Ostbahnhof an. Ich fand sehr viel Post vor, einige Briefe, darunter zwei von Dir. Auch ein sechs Seiten langer Brief von Lene aus Köln war da mit erschütternden Schilderungen von den vier großen Angriffen auf Köln am 28./29. Juni und vom 6./7. Juli. Auch aus Rußland sind 9 Briefe von mir an Dich zurückgekommen.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen