Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE MÜNSTERBERG

Wien, 17. Jänner 1941

Bild klickbar



Kommentar

Ich hatte eine solche Freude, daß Du mich am Dienstag abend noch angerufen hast, daß ich Dir das ausdrücklich schreiben muß. Ich hatte schon geschlafen, plötzlich läutet das Telefon und ich laufe hin und auf einmal sprachst Du mit mir. Das war so schön, als wärest Du plötzlich ins Zimmer getreten und hättest mir etwas Liebes gesagt. Und Du hast mir auch was Liebes gesagt! Wallilein, hast Du gesagt, und Deine Stimme war so lieb und süß, daß ich noch lange Zeit nachher, als ich schon wieder im Bett lag, Herzklopfen hatte.
Am Mittwoch war ich bei Grete Fiala. Da sie gerade Zeit hatte und keine Kundschaften da waren, konnten wir lange miteinander plaudern. Sie erzählte mir allerhand vom Geschäft, lauter Sorgen und unangenehme Dinge, dann von ihrem Mann, der, wie Du weißt, jetzt in Polen als Lehrer ist und zu Weihnachten hier auf Urlaub war. Er erzählte so schreckliche Sachen von dort, daß ich sie bat aufzuhören. Den ganzen Abend und den ganzen nächsten Tag war ich noch deprimiert. Auch sie ist sehr unglücklich über alles, was sich ereignet und hat sich den Ausweg gefunden, zu einer Graphologin und Kartenaufschlagerin zu gehen. Sie erzählte mir von sehr vielen Leuten aus ihrem Bekanntenkreis, die das auch machen und es scheint tatsächlich so etwas wie eine Epidemie ausgebrochen zu sein, daß die Leute jetzt so abergläubisch werden. Ein schlimmes Zeichen der Zeit und Massenverzweiflung.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen