Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE FRANKREICH

Wien, 14. Juni 1940

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Kommentar

Durchs Radio wurde heute gesagt, daß an der Saar ein Frontalangriff gegen die Maginotlinie begonnen wurde. Liebes Spatzili, ich bitte Gott, daß er Dich schützen möge! Ich bin so traurig, daß mir die Tränen manchmal nahe sind.
Haben die Menschen, die allerorten meistens unschuldig sind, nicht endlich den Frieden verdient? Überall sind die Menschen gut und bereit, das Gute zu tun. Und trotzdem ist soviel Unglück über alle Menschen gekommen. Es ist meiner Ansicht nach ganz müßig, nach den Verantwortlichen zu suchen, denn soviel Unglück können selbst hunderttausend Verantwortliche nicht verschuldet haben. Außer ganz oberflächlichen Menschen leidet heute jeder. Und jeder hat gewiß einen wunden Punkt. Mein wundester Punkt ist Dein Schicksal und Wohlergehen an so entscheidenden Tagen.
Habe ich da das Recht, von Heldentum zu reden? Und ich sage Dir, auch die anderen meiner Mitmenschen, wenn sie auch noch soviel von Heldentum reden, haben dieses Recht nicht, denn wie wenig ich auch mit Menschen rede, so sagt mir doch jede ihrer Äußerungen deutlich, daß sie das Ende des ganzen nicht erwarten können! Sie stürzen sich jeden Tag über die Nachrichten in der geheimen Hoffnung, das so heiß ersehnte siegreiche Ende endlich bestätigt zu hören - wo es doch ohnehin in unheimlicher und unvorstellbarer Schnelligkeit vor sich geht - und haben die innere Kraft nicht, sich wirkliches Heldentum vorzustellen, an ein solches zu glauben und es mitzuerleben, denn wann gäbe es eine bessere Gelegenheit zu wirklichem Heldentum als die heutige Tatsache, daß ein großes und mächtiges Land, ein ausgezeichnetes und hochgemutes Volk wie z. B. die Franzosen in ihrer heutigen wahrhaft verzweifelten Lage durch die Verteidigung ihrer Sache bis zum letzten Mann eine Probe wahren Heldentums liefern könnten. Aber wer will denn wirklich dieses Heldentum? Von den Franzosen muß ich schweigen, aber ich rede von mir und von allen meinen Volksgenossen.
Jeder weiß mit hundert überzeugenden Argumenten zu beweisen, daß es das beste und gescheiteste wäre, jene da drüben würden ihre unhaltbare Lage einsehen und den Widerstand einstellen. Armes Heldentum, wenn man nicht einmal die Kraft hat, fremdes Heldentum abzuwarten und mitzuerleben. Meiner Meinung nach hat damit der ganze Begriff von Heldentum seinen inneren Sinn verloren.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen