Wenn erst Friede ist  © 2005

NACHRUF

Brief Rose Ehrlich, New York City, 13. Mai 1947

Anton Kittel starb am 14. April 1947 bei einem Autounfall. Die übrigen Insassen des Autos blieben unverletzt.

Meine liebe, liebste Vally, vor ungefähr zehn Tagen habe ich durch Karli Peutl die schreckliche Nachricht erhalten über Toni. Zuerst habe ich um ihn geweint, daß er so jung hat gehen müssen von dieser Welt, die trotz allem Schweren doch eine einmalige ist. Ich habe mich an tausend liebe Dinge im Zusammenhang mit ihm erinnert; ich weiß genau, wie Du mir das erste Mal über Euch erzählt hattest, ich habe mich an alle Probleme und Komplikationen erinnert und daran, daß er trotz seiner Jugend und seines unbekümmerten Temperamentes es verstanden hat, gut zu Dir zu sein, wenn Du in Not warst. Ich denke daran, daß er Dir Märchen erzählt hat, wenn Du durch irgendein Erlebnis aufgewühlt und erschüttert warst und nicht hast schlafen können. Ich denke daran, wie wir um ihn gezittert haben, als er vom Standgericht aus verhaftet wurde; und ich denke daran, wie unser Mäderl für ihn geschwärmt hat. Ich weiß, daß er sich immer hochanständig und so benommen hat, wie Du es von ihm erwartet hast, und es tut mir bitter weh, daß er nicht hat all die Dinge tun dürfen, die noch vor ihm gelegen sind. An ihn werden ich und Otto und Edith stets mit Wärme und Freundschaft denken, er wird für uns immer das Beispiel eines Wiener Genossen bleiben, der bei all seiner wienerischen Feschheit und Lebenslust ein grundanständiger, guter, lieber, feiner Mensch gewesen ist.

Toni weiß von nichts, er leidet nichts, ihm tut nichts weh, und er mißt nichts. Aber Du, liebste, gute Vally, für Dich bricht mein Herz im wahrsten Sinne des Wortes. Hast Du doch ohnehin ein schweres Leben, bist Du doch ohnehin ein Mensch, dem alles so nahegeht und so tief, und war doch Toni für Dich immer eine Mischung von Mann und Kind. Ich kann Dir gar nichts sagen als Trost. Ich kann Dir auch nicht sagen, weine nicht um Toni, denn um wen sollen denn Tränen fließen, wehn nicht um einen geliebten Menschen? Versuche nicht, den Schmerz gewaltsam zu überwinden, Vally, das ist gar nicht gut. Den tiefsten Kummer wirklich spüren, auch das ist ein Teil unseres Lebens. Laß Dir auch nicht sagen, daß die Zeit alle Wunden heilt, denn in dieser Form ist es nicht richtig. Nur, das Leben ist stärker als der Tod, und wenn wir leben, dann wollen wir nicht als Krüppel leben, und so verleiben wir den Kummer in unsere Persönlichkeit ein, er wird ein Teil unseres Wesens, und dadurch ist der verlorene Mensch doch wieder bei und in uns. Ich meine, daß man nach einer Weile (und das alles kommt bei einem so klaren Menschen, wie Du es bist, sicher ganz natürlich und mit der Entwicklung des Lebens) den Kummer umwandelt: erst ist er wie ein wildes reißendes Tier, das einen brüllen macht vor Schmerz und das den Verstand fast verwirrt; dann wird er ein dumpfes Staunen und Wunder: gibt es das wirklich, bin das ich, die so leidet? Dann kommt eine Reaktion: man fühlt eine Weile gar nichts, alles ist gestorben. Dann nimmt man den Kummer an sein Herz und sieht, daß man nicht weniger Herz hat, sondern mehr. Man wird feinhöriger und feinfühliger, man fürchtet sich nicht zu leiden, man erkennt, daß leben heißt, nicht nur glücklich sein, nicht nur arbeiten, nicht nur schaffen, sondern  a u c h  l e i d e n.  Es ist nicht leicht, es dauert lange, manchmal jahrelang, aber Du wirst nicht zusammenbrechen, Vally, Du nicht.
Meine "schwarze" Rose, meine Bedienerin, sagt auch, daß Gott nur die Starken prüft, denn bei den Schwachen weiß er ohnehin, daß sie die Prüfungen nicht ertragen ...
Liebste Vally, ich weiß, lieber wärest Du schwach und unbedeutend und kummerlos und glücklich. Aber wir können es uns nicht aussuchen.
Dabei denke daran, daß Toni nicht hat elend in diesem Kriege unter furchtbaren Schmerzen sterben müssen, sondern daß sein Tod der eines Götterlieblings war: rasch und schmerzlos.
Liebste Vally, wenn Du das Bedürfnis hast, mit mir zu sprechen, dann schreibe bald wieder. Wenn es Dir leichter ist, nicht zu schreiben, dann mußt Du es nicht tun. Wie ich während der langen Kriegsjahre, wo wir doch nichts voneinander hörten, dessen gewiß war, daß Du geblieben bist wie Du warst, so verstehe ich Dich auch jetzt und habe tiefstes Vertrauen in Dich. Wenn ich Dir durch meine Liebe und Freundschaft ein wenig helfen kann, dann hat mein eigenes Leid mehr Sinn bekommen.
Ich umarme Dich in alter Freundschaft und Treue

Deine Rosa


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