Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE MÜNSTERBERG

Wien, 12. November 1940

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Kommentar

Nun bist Du wieder fort - eingestiegen in den rätselhaften Zug und hinausgefahren in die Nacht - irgendwohin - wo ich noch niemals gewesen bin und zu einem Zweck, der mir nicht verständlich ist und hast mich zurückgelassen auf dem finsteren Bahnsteig, in der finsteren regnerischen Nacht allein nach Hause fahren lassen und hast all das Liebe und Heitere, das Beschwingte und Fröhliche Deines Wesens mitgenommen. Wie oft wirst Du eigentlich noch so im Zug davonfahren? Ich brauche Dein unruhiges, quecksilbriges Temperament so notwendig und liebe Deine Unruhe, die Du stets um mich verbreitest, viel zu sehr, als daß ich nicht immer mit einem unendlich traurigen und leeren Gefühl hinter einem abfahrenden Zug zurückbleiben würde.
Gestern um diese Zeit bist Du noch hier auf dem Diwan gesessen und das Radio spielte schöne Musik und ich wußte Deine warme aufregende liebe Nähe ganz bei mir und heute sitze ich ganz allein hier und kann nichts anderes als höchstens einen sehnsüchtigen Brief Dir nachschicken.
Ich war heute nachmittag mit drei Kolleginnen und einem Kollegen im Schottenkeller und habe ¼ l Grinzinger Wein mehr als zur Hälfte ausgetrunken. Ich hatte nicht den geringsten Schwips und der Wein hat mir ausnahmsweise sogar geschmeckt. Wenn Du nächstens kommst, werden wir uns ein Essen einpacken und dann werde ich Dich ausführen und Dir zeigen, wo es einen guten Wein gibt.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen