Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE HINTERLAND

Wien, 12. September 1944

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Kommentar

Hast Du mich auch noch am Montag im Büro angerufen? Ich war nämlich am Montag (also gestern)  n i c h t  im Büro, weil ich sofort um 8 Uhr, als ich ins Büro gekommen bin, wieder weggegangen bin. Ja, mein liebes Spatzili, das war gestern ein furchtbarer Tag für mich und für uns alle. Ich muß Dir viele traurige Mitteilungen machen.
Zunächst einmal wurde Herma Sonntag abend durch die Partei verständigt, daß Hansl am Samstag, dem 9. September, im Lazarett in Karlsruhe gestorben ist. Wahrscheinlich hat er die Überführung doch nicht ausgehalten. Ich bin daher sofort mit Sack und Pack gestern früh vom Büro nach Lainz gefahren, weil sie mich darum gebeten hat. Wir haben einige Wege gemacht, um die Überführung der Leiche zu erreichen, es wird wahrscheinlich aber nicht gehen, weil seit 8 Tagen solche Überführungen gänzlich eingestellt sind. Wir warten also weiter auf nähere Mitteilungen aus Karlsruhe.
Und nun die Wirkungen des furchtbaren Terrorangriffes vom Sonntag auf Wien. Das kannst Du Dir überhaupt nicht vorstellen, und ich hätte das nie im Traum für möglich gehalten. Es ist unvorstellbar, was alles vernichtet und zerstört ist. Und zwar sind mit Ausnahme von 4 oder 5 Bezirken alle Bezirke betroffen. Nur im 6., 7., 13., 14. und 15. Bezirk ist nichts gewesen. Ich habe mich sofort interessiert für unsere Bekannten, die in den betroffenen Bezirken wohnen. Zuerst war ich im 3. Bezirk, Dietrichgasse, bei meiner Tante Pischa. Vollkommen bombenbeschädigt! Nichts wie Schutt und Trümmer in der Wohnung, im ganzen Haus, zwei Seitenwände des Hauses vollkommen eingestürzt. Ringsherum furchtbare Verwüstung. Die zwei Frauen waren dort und kramten nur in Schutt und Trümmern herum. Ich habe ihnen versprochen, daß mein Vater am nächsten Tag hinkommen wird. Sie schlafen inzwischen irgendwo bei Bekannten.
Von dort fuhr ich direkt bis zur Alser Straße, um nach Otto und Familie zu sehen. Was ich aber dort gesehen habe, übersteigt alle Vorstellungskraft. Die ganze Alser Straße von der Spitalgasse bis zum Gürtel und darüber hinaus ein einziger Schutt- und Trümmerhaufen. Von der Universität aus mußte ich zu Fuß gehen, da die meisten Straßenbahnlinien in Wien eingestellt sind, auch die Gürtellinie der Stadtbahn. Von weitem schon sah ich, daß auch das Wohnhaus vom Otto eingestürzt ist. Bis zum Haus selbst konnte ich aber nicht kommen, da speziell dieses Haus besonders abgesperrt ist wegen Einsturzgefahr, außerdem brannte es aus dem Innern noch gestern abend. Ich ließ aber nicht locker und wollte unbedingt erfahren, was mit Otto ist, denn im Geschäft rührte sich gestern den ganzen Tag niemand, sooft ich auch anrief. Man schickte mich von einer Polizeistelle zur anderen, niemand wußte etwas, niemand konnte Auskunft geben, ich habe es dann doch durchgesetzt, mich dem Haus zu nähern, und nach langem Hin- und Herfragen erfuhr ich von der Hausbesorgerin des Hauses, daß Helli und Franzi gerettet, Otto aber bisher n i c h t  gefunden wurde!
Ich erfuhr auch, daß Franzi und Helli sich bei Alma in der Burggasse aufhalten, ging hin, erfuhr auf komplizierte Weise die Hausnummer, traf aber zufällig Helli und Alma plötzlich auch auf der Polizeistelle und ging dann zu Franzi hinauf, die leicht verletzt ist. Franzi erzählte mir, daß Helli und Hilda (das Dienstmädchen) gleich hinuntergingen in den Keller, Otto und Franzi ließen sich Zeit, waren aber auch bereits auf dem Weg, Franzi bereits auf der Stiege, Otto noch am Gang zu der Wohnungstür, plötzlich schlug eine Luftmine ein, das ganze Stiegenhaus stürzte zusammen, Franzi saß stundenlang auf schwindelnder Höhe auf einem Mauervorsprung, bis sie geborgen werden konnte, von Otto fehlt jede Spur.
Franzi redet sich noch immer ein, daß er auch geborgen wurde und bewußtlos in einem Spital liege, wir alle anderen haben leider keine Hoffnung, aber wir lassen ihr ihre Hoffnung. Von ihren Sachen ist alles vernichtet, nicht einmal eine  S p u r  wird davon gefunden werden. Wer weiß, ob man Otto jemals noch finden wird.
Und wenn Du die Innere Stadt sehen würdest! Unzählige Häuser und alte Bauten sind vernichtet. Es ist grauenhaft. Die Zahl der Toten muß unendlich groß sein, es wird überall noch nach Verschütteten gegraben, ununterbrochen hört man von allen Seiten Nachrichten über Tote und Ausgebombte. Angeblich ist der Alarm auch viel zu knapp gegeben worden. Die meisten Bezirke haben kein Gas und kein Wasser. Nun, davon wird noch viel zu erzählen sein, wenn nicht inzwischen vielleicht schon wieder ein neuer Angriff stattgefunden hat.

Liebes Spatzilein, ich war trotzdem froh über die schönen Stunden, wo ich mit Dir beisammen sein konnte, leider war aber der Unterschied dann zu krass zu all dem Furchtbaren, was ich dann erfuhr.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen