Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE FRANKREICH

Wien, 12. Juni 1940

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Kommentar

Ich denke immer nur an den Frieden, an einen Frieden, der diesen Namen auch wirklich verdient. Werden wir diesen Frieden bald erleben? Einen Frieden, der die unzähligen Tränen zu trocknen imstande ist? Das übersteigt aber beinahe Menschenkraft. Ich sehe vorläufig gar keinen Weg zu einem wahren Frieden. Wenn das Kriegshandwerk die Menschen vorerst einmal innerlich ergriffen hat, dann sind sie gewöhnlich fur den Frieden unbrauchbar geworden.
Die ganze Woche machte ich nichts besonderes und kam auch mit niemandem zusammen mit Ausnahme des Freitag, den 7. Juni, da ging ich nachmittags zu Hilde und traf dort auch Lintschi mit ihrem kleinen Klaus. Die Kinder spielten im Garten und wir saßen im Garten und ich fühlte mich sehr wohl. Mit Hilde bin ich sehr gerne zusammen, sie wirkt so beruhigend und sympathisch auf mich, daß sie mir von allen Bekannten beinahe am liebsten ist. Am Samstag, den 8. war ich nachmittag in der Nationalbibliothek in einer Ausstellung über Ferdinand Raimund und das volkstümliche Theater. Dienstag, also gestern, waren Hans Reich und Minnie Sch. angesagt und wir verbrachten den Abend zuerst bei uns zu Hause und dann auf einem zweistündigen Spaziergang von 9 bis 11 Uhr. Ich habe vorige Woche Shakespeares Macbeth gelesen, außerdem habe ich etwas Französisch gelernt, um meine Kenntnisse aufzufrischen und eine russische Aufgabe steht mir heute noch bevor. Vorigen Mittwoch abends ging ich einige Male die Guldengasse auf und ab spazieren, denn da blühten die Akazien und es war ein wunderbarer Geruch. Bei uns im Garten blühen schon die Rosen. Zu allererst blühten zwei von unseren Stöcken.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen