Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE FRANKREICH

Pfingstsonntag, 12. Mai 1940

Bild klickbar



Kommentar

Nun sind die Pfingstfeiertage zur Hälfte schon vergangen, es sind dies die traurigsten, die ich bisher erlebt habe. Du schreibst in Deinem letzten lieben Brief, daß Du es ganz richtig findest, wenn ich mutig und fest bleibe und mich von meinem Weg nicht abbringen lasse. Aber leider, liebes Spatzilein, gibt es sehr oft Tage, da ich ganz und gar mutlos bin und mir ganz verloren vorkomme. Du kennst mich ja ganz genau und hast es oft erlebt, wie über alle Maßen und über jeden Verstand hinaus ich Anfälle von Verzweiflung haben kann und daß mir in einem solchen Moment überhaupt niemand außer Dir ganz allein helfen kann. Donnerstag, den 9. Mai, spät abends beim Nachhausekommen, fand ich Deinen lieben Brief. Ich war darüber so überglücklich, daß ich mit einem wunderbaren Gefühl zu Bett ging, Deinen Brief mit ins Bett nehmend. Mit demselben glücklichen, fast wunschlosen Gefühl wachte ich auf, las nochmals Deinen Brief und war in ganz ausgeglichener Stimmung. Vormittag kam dann die Radionachricht über die neue Wendung der Dinge.
Zuerst war ich ganz gefaßt und ruhig, wurde aber in steigendem Maße von einer ungeheuren Erregung erfaßt, was sich auch körperlich auswirkte, ich bekam alle unangenehmen Symptome meiner Nerven zu spüren, rote Flecken im Gesicht, am Hals, an den Armen, heiße rote Ohren, was ich immer am schrecklichsten empfinde. Ich beruhigte mich dann ein wenig. Der Samstag im Büro war nicht angenehm, ich fror dauernd, außerdem hatte ich heftige Kreuzschmerzen und meine Nervosität stieg wieder.
Ich hatte mit Anny J. für den nächsten Tag, also Pfingstsonntag, zeitlich früh um 6.21 Uhr am Ostbahnhof mich verabredet zu einem Ausflug ins Burgenland für 2 Tage. Von Deinen Eltern zurückkommend richtete ich noch alles fix und fertig für mich und ging gegen 10 Uhr schlafen. Ich schlief auch bald ein, wurde jedoch um ½ 2 Uhr nachts wach und konnte zunächst nicht mehr schlafen. Und da kam plötzlich wieder die Angst und Verzweiflung über mich, ich warf mich hin und her und wälzte Gedanken um Gedanken, und immer nur an Dich dachte ich und an das alles, was jetzt kommen würde und von Schlaf war keine Rede. Es wurde schon 3 Uhr und mehr.
Ich war in meinen Gedankengängen schon zu einer Lösung und dadurch zu einer Beruhigung gekommen, als ich plötzlich unsere Glocke vom Haustor läuten hörte. Ich war wie von Schreck gelähmt, wagte nicht aufzustehen, sondern lauschte gespannt, ob ich unten etwas hören konnte, denn das Fenster war ja offen. Nach einer langen Weile war mir, als hörte ich ein paar Schritte auf dem Gehsteig. Ich war nun überzeugt, daß unten wer stünde, und zu mir wollte, ich dachte, vielleicht ein Telegramm von Dir oder man komme mich holen. --
Ich rührte mich nicht, dann ging ich zum Fenster, aber es war alles kohlrabenschwarz, da jetzt vollkommen verdunkelt ist, ich ging in die Küche, holte meine Brille und schaute nochmals, aber es rührte sich nichts. Ich legte mich wieder schlafen, hörte aber gespannt auf jedes Geräusch, manchmal hörte ich Schritte. Es war 4 Uhr vorüber, ich war wieder ruhiger, an Schlafen konnte ich ohnehin nicht mehr denken, denn um ½ 5 Uhr wollte ich aufstehen. Da hörte ich zum Überfluß unsere Wohnungsglocke läuten und nun war ich überzeugt, daß bei der Tür jemand stehe. Ich will Dir nicht näher schildern, welche Angst ich ausstand, bis ich dann um ½ 5 Uhr aufstand und vor der Tür nachschaute, aber natürlich niemand da war. Bleich und unausgeschlafen ging ich um ¼ 6 Uhr zur Verbindungsbahn und fuhr zum Ostbahnhof. Anny sollte schon dort sein und die Karten lösen. Es waren Menschen, ich suchte die Anny, fand sie nicht, schließlich stellte ich mich bei der Kasse an und wollte allein fahren, da wurde die Kasse plötzlich geschlossen und für meinen Zug der Kartenverkauf eingestellt. Viele Leute, die ihre eingerückten Verwandten in Bruck an der Leitha usw. besuchen wollten, konnten nicht fahren. Ich wartete noch eine Weile, aber von Anny keine Spur. Ich selbst befand mich in dem Gefühl völligen Verlassenseins und einer völligen Unfähigkeit, irgendeinen Entschluß zu fassen, sodaß ich zunächst 1 Stunde planlos beim Arsenal und Schweizergarten herumirrte. Nach Hause in die leere Wohnung wollte ich auf keinen Fall. Ich ging dann in die in der Nähe befindliche Argentinierstraße, um zu sehen, was Minnie Schüller mache, da es aber so zeitlich früh war (¼ 8 Uhr), konnte ich mich nicht entschließen, an der Tür zu läuten und ging wieder weg. Dann beschloß ich zu Herma zu fahren und zu Fuß nach Hause zu gehen. Ich kam nach 8 Uhr zu ihr, mußte aber dann bis zum Mittagessen bleiben und nach dem Essen gingen wir und Fritzi nach Ober St. Veit - Himmelhof spazieren. Das Wetter war den ganzen Tag trübe, zeitweise regnete es. Ich konnte den ganzen Tag einfach nichts sprechen, ein paarmal waren mir die Tränen nahe. Herma fragt zum Glück fast nichts, was ich nicht selbst erzähle und so störte mich niemand. Erst auf dem Heimweg zu unseren Eltern konnte ich mit Herma wieder ein bißchen über Alltägliches reden,

Pfingstmontag

Mein liebes Spatzili! Ich habe heute nacht sehr gut geschlafen, aber trotzdem war ich den ganzen Tag sehr traurig. Ich ging gar nicht fort, denn es war schrecklich kalt und windig draußen, obwohl fast den ganzen Tag die Sonne schien, und leider war es auch in der Wohnung kalt. Fritzi kam allein schon zeitlich am Vormittag zu mir und blieb bis jetzt 7 Uhr abends, und Herma kam nachmittags gegen 4 Uhr. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie furchtbar es ist, hier zu sein und auf Nachricht zu warten und jede Sekunde mit 1000 Ängsten an Dich zu denken, es ist eine Hölle, sage ich Dir. Liebes Spatzili, ich fange an zu Gott zu beten, daß er Dich bald zu mir zurückbringen möge, denn wenn Menschen nicht helfen können, dann kann nur Gott helfen.
Fritzi, der heute den ganzen Tag bei mir war, ist so lieb und brav, nur war ich in meine Sorgen so eingesponnen, daß ich mich ihm fast gar nicht gewidmet habe. Aber so bin ich, furchtbar egoistisch in meinem Schmerz. Liebes Spatzili, auch das könntest Du bessern, wenn Du Deinen Einfluß auf mich in Zukunft mehr zur Geltung bringen würdest. Früher war das nicht so sehr der Fall, aber jetzt, wo ich Dich so genau und lange kenne und jetzt, wo ich durch die vielen Erlebnisse und Erfahrungen weicher geworden bin und Du vielleicht härter, jetzt kommt die Zeit, wo Deine Erziehungsarbeit an mir beginnt.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen