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Nun sind die Pfingstfeiertage zur
Hälfte schon vergangen, es sind dies die traurigsten, die ich bisher
erlebt habe. Du schreibst in Deinem letzten lieben Brief, daß Du es ganz
richtig findest, wenn ich mutig und fest bleibe und mich von meinem Weg nicht
abbringen lasse. Aber leider, liebes Spatzilein, gibt es sehr oft Tage, da ich
ganz und gar mutlos bin und mir ganz verloren vorkomme. Du kennst mich ja ganz
genau und hast es oft erlebt, wie über alle Maßen und über
jeden Verstand hinaus ich Anfälle von Verzweiflung haben kann und
daß mir in einem solchen Moment überhaupt niemand außer Dir
ganz allein helfen kann. Donnerstag, den 9. Mai, spät abends beim
Nachhausekommen, fand ich Deinen lieben Brief. Ich war darüber so
überglücklich, daß ich mit einem wunderbaren Gefühl zu
Bett ging, Deinen Brief mit ins Bett nehmend. Mit demselben glücklichen,
fast wunschlosen Gefühl wachte ich auf, las nochmals Deinen Brief und war
in ganz ausgeglichener Stimmung. Vormittag kam dann die Radionachricht
über die neue Wendung der Dinge. Zuerst war ich ganz gefaßt
und ruhig, wurde aber in steigendem Maße von einer ungeheuren Erregung
erfaßt, was sich auch körperlich auswirkte, ich bekam alle
unangenehmen Symptome meiner Nerven zu spüren, rote Flecken im Gesicht, am
Hals, an den Armen, heiße rote Ohren, was ich immer am schrecklichsten
empfinde. Ich beruhigte mich dann ein wenig. Der Samstag im Büro war nicht
angenehm, ich fror dauernd, außerdem hatte ich heftige Kreuzschmerzen und
meine Nervosität stieg wieder. Ich hatte mit
Anny J. für
den nächsten Tag, also Pfingstsonntag, zeitlich früh um 6.21 Uhr am
Ostbahnhof mich verabredet zu einem Ausflug ins Burgenland für 2 Tage. Von
Deinen Eltern zurückkommend richtete ich noch alles fix und fertig
für mich und ging gegen 10 Uhr schlafen. Ich schlief auch bald ein, wurde
jedoch um ½ 2 Uhr nachts wach und konnte zunächst nicht mehr
schlafen. Und da kam plötzlich wieder die Angst und Verzweiflung über
mich, ich warf mich hin und her und wälzte Gedanken um Gedanken, und immer
nur an Dich dachte ich und an das alles, was jetzt kommen würde und von
Schlaf war keine Rede. Es wurde schon 3 Uhr und mehr. Ich war in meinen
Gedankengängen schon zu einer Lösung und dadurch zu einer Beruhigung
gekommen, als ich plötzlich unsere Glocke vom Haustor läuten
hörte. Ich war wie von Schreck gelähmt, wagte nicht aufzustehen,
sondern lauschte gespannt, ob ich unten etwas hören konnte, denn das
Fenster war ja offen. Nach einer langen Weile war mir, als hörte ich ein
paar Schritte auf dem Gehsteig. Ich war nun überzeugt, daß unten wer
stünde, und zu mir wollte, ich dachte, vielleicht ein Telegramm von Dir
oder man komme mich holen. -- Ich rührte mich nicht,
dann ging ich zum Fenster, aber es war alles kohlrabenschwarz, da jetzt
vollkommen verdunkelt ist, ich ging in die Küche, holte meine Brille und
schaute nochmals, aber es rührte sich nichts. Ich legte mich wieder
schlafen, hörte aber gespannt auf jedes Geräusch, manchmal hörte
ich Schritte. Es war 4 Uhr vorüber, ich war wieder ruhiger, an Schlafen
konnte ich ohnehin nicht mehr denken, denn um ½ 5 Uhr wollte ich
aufstehen. Da hörte ich zum Überfluß unsere Wohnungsglocke
läuten und nun war ich überzeugt, daß bei der Tür jemand
stehe. Ich will Dir nicht näher schildern, welche Angst ich ausstand, bis
ich dann um ½ 5 Uhr aufstand und vor der Tür nachschaute, aber
natürlich niemand da war. Bleich und unausgeschlafen ging ich um
¼ 6 Uhr zur Verbindungsbahn und fuhr zum Ostbahnhof. Anny sollte
schon dort sein und die Karten lösen. Es waren Menschen, ich suchte die
Anny, fand sie nicht, schließlich stellte ich mich bei der Kasse an und
wollte allein fahren, da wurde die Kasse plötzlich geschlossen und
für meinen Zug der Kartenverkauf eingestellt. Viele Leute, die ihre
eingerückten Verwandten in Bruck an der Leitha usw. besuchen wollten,
konnten nicht fahren. Ich wartete noch eine Weile, aber von Anny keine Spur.
Ich selbst befand mich in dem Gefühl völligen Verlassenseins und
einer völligen Unfähigkeit, irgendeinen Entschluß zu fassen,
sodaß ich zunächst 1 Stunde planlos beim Arsenal und Schweizergarten
herumirrte. Nach Hause in die leere Wohnung wollte ich auf keinen Fall. Ich
ging dann in die in der Nähe befindliche Argentinierstraße, um zu
sehen, was Minnie Schüller mache, da es aber so zeitlich früh war
(¼ 8 Uhr), konnte ich mich nicht entschließen, an der
Tür zu läuten und ging wieder weg. Dann beschloß ich zu Herma
zu fahren und zu Fuß nach Hause zu gehen. Ich kam nach 8 Uhr zu ihr,
mußte aber dann bis zum Mittagessen bleiben und nach dem Essen gingen wir
und Fritzi nach Ober St. Veit - Himmelhof spazieren. Das Wetter war den ganzen
Tag trübe, zeitweise regnete es. Ich konnte den ganzen Tag einfach nichts
sprechen, ein paarmal waren mir die Tränen nahe. Herma fragt zum
Glück fast nichts, was ich nicht selbst erzähle und so störte
mich niemand. Erst auf dem Heimweg zu unseren Eltern konnte ich mit Herma
wieder ein bißchen über Alltägliches reden,
Pfingstmontag
Mein liebes Spatzili! Ich habe heute nacht sehr
gut geschlafen, aber trotzdem war ich den ganzen Tag sehr traurig. Ich ging gar
nicht fort, denn es war schrecklich kalt und windig draußen, obwohl fast
den ganzen Tag die Sonne schien, und leider war es auch in der Wohnung kalt.
Fritzi kam allein schon zeitlich am Vormittag zu mir und blieb bis jetzt 7 Uhr
abends, und Herma kam nachmittags gegen 4 Uhr. Du kannst Dir gar nicht
vorstellen, wie furchtbar es ist, hier zu sein und auf Nachricht zu warten und
jede Sekunde mit 1000 Ängsten an Dich zu denken, es ist eine Hölle,
sage ich Dir. Liebes Spatzili, ich fange an zu Gott zu beten, daß er Dich
bald zu mir zurückbringen möge, denn wenn Menschen nicht helfen
können, dann kann nur Gott helfen. Fritzi, der heute den ganzen Tag
bei mir war, ist so lieb und brav, nur war ich in meine Sorgen so eingesponnen,
daß ich mich ihm fast gar nicht gewidmet habe. Aber so bin ich, furchtbar
egoistisch in meinem Schmerz. Liebes Spatzili, auch das könntest Du
bessern, wenn Du Deinen Einfluß auf mich in Zukunft mehr zur Geltung
bringen würdest. Früher war das nicht so sehr der Fall, aber jetzt,
wo ich Dich so genau und lange kenne und jetzt, wo ich durch die vielen
Erlebnisse und Erfahrungen weicher geworden bin und Du vielleicht härter,
jetzt kommt die Zeit, wo Deine Erziehungsarbeit an mir beginnt.
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