Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE RUSSLAND II

Wien, 9. April 1943

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Kommentar

Ich bin noch immer ganz betäubt und zerbrochen wegen der Minnie. Ich war gestern bei ihrer Mutter und Schwester Grete und habe mir den Hergang erzählen lassen. Danach war sie noch am Samstag ganz vergnügt und war am Abend mit der Schwester im Kino, und außerdem hat sie noch selbst am Samstag drei Theaterkarten für den Sonntagabend besorgt. Am Sonntag früh hat sie noch gebügelt, die Sachen, die sie am Abend ins Theater anziehen wollte. Um ½ 11 Uhr vormittag kam dann die Post, und es war ein Brief für Minnie dabei, und Grete trug ihn ihr gleich ins Zimmer hinein. Vorausschicken muß Ich, was Grete mir erzählt hat, daß die Minnie schon seit einiger Zeit sichtlich sehr nervös war. Immer beim Nachhausekommen aufgeregt fragte, ob kein Anruf für sie erfolgt wäre oder Post gekommen wäre. An diesem Sonntag nun kam eben dieser Brief, und Grete wußte, daß er von dem Betreffenden war, von dem Minnie längst schon eine Nachricht erwartete. Aber nachdem Minnie ihn gelesen hatte, war ihre Stimmung auf einmal aufs tiefste deprimiert. Der Grete fiel wohl auf, daß Minnie nun zu gar nichts mehr Lust zeigte, nicht einmal ihr Mittagessen machte sie sich fertig. Sie lag angekleidet in ihrem Bett und studierte vor sich hin. Grete machte sich dann fertig, da sie einen Spitalbesuch vorhatte, und Minnie saß während dieser Zeit bei ihrem Schreibtisch und schrieb irgend etwas.
Grete kam von ihrem Spitalbesuch um ¼ 5 Uhr nachmittag nach Hause und spürte schon im Vorzimmer Gasgeruch, sie ging gleich in die Küche, und da lag die Minnie am Boden auf einer Decke und Polster unter dem Kopf und rührte sich nicht mehr. Sie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen, vier Seiten lang, den ich selbst gelesen habe. Darin schreibt sie, daß alle Menschen sie verstoßen, und niemand hat sie lieb, sie falle allen nur lästig, und was sie auch anpacke, gehe ihr schief, und auf ihr liegt ein Fluch, und so will sie das Leben nicht länger ertragen, sondern lieber sterben. Mir geht das Ganze so nahe, daß ich es gar nicht sagen kann. Aber was hilft jetzt das ganze Reden und Nachdenken und Spekulieren, da wir ihr nun nicht mehr helfen können.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen