Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE MÜNSTERBERG

Wien, 8. Dezember 1940

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Kommentar

Ich war gestern, Samstag nachmittag, in einer Ausstellung von russischen Emigranten. Vorher noch traf ich Frau Peutl, die mich vom Büro abgeholt hat und mir von Fini und Karl erzählte. Diese arme Frau hat wieder geweint, wenn sie an ihre Kinder denkt, die so weit weg sind und da die Aussicht immer geringer wird, sie im Leben je wiedersehen zu können. Fini schreibt verzweifelte Briefe und auch die Nachrichten von Karl sind trostlos.
Danach war ich am Flötzersteig bei Hilde. Die Sache von Roberts Pension dürfte diese Woche entschieden werden, am Arbeitsamt wird er sich in der Woche nach dem 15. Dezember melden. Er erzählte verschiedenes von seinen Erlebnissen in seiner ruhigen unaufdringlichen und angenehmen Art und fühlt sich überglücklich zu Hause. Seine Nerven haben Gott sei Dank scheinbar nicht gelitten und er ist nach wie vor bei bestem Appetit, sodaß er hoffentlich die Gewichtsabnahme auch wieder bald aufholen wird. Ich werde Dir dann, wenn Du hier bist, alles genau erzählen, wie sich das ergeben hat, daß er überhaupt nach Hause kam, während seine anderen Kameraden dieses Glück nicht hatten und einer von ihnen bereits hinaus in ein Lager kam. Robert und auch ich bin nach all den Ereignissen seit der Verhandlung der Meinung, daß einzig und allein Hilde es war, die es zustande brachte. Es ist wirklich so rührend und erinnert beinahe an Fidelio. Die arme Hilde ist jetzt ganz müde und aufgerieben von all den Aufregungen und vielleicht momentan schonungsbedürftiger als er. Man kann von ihr wirklich sagen, daß sie ihre Pflicht erfüllt hat. Sie ist ein so tapferer Mensch, daß ich sie nicht genug bewundern kann. Der kleine Herbert ist einfach reizend und man hat das Gefühl eines vollkommenen Familienglücks, wenn man sie beieinander sieht. Er wird in der Kasse und bei allen Menschen sehr nett empfangen und von den Freunden enthusiastisch begrüßt und er sieht sich überall von Liebe und Freundschaft umgeben, weil er eine harte Lebensprobe gut bestanden hat.
Hier ist alles schon weihnachtlich und der Verkehr in den Geschäftsstraßen außerordentlich stark und ich erinnere mich oft daran, daß Du im Vorjahr noch bei Corso warst und vor Weihnachten viel zu tun hattest. Heuer wird sich das sehr geändert haben. Wenn Du jetzt in Wien sein wirst, können wir ja einen Sprung hinmachen. Man kriegt jetzt hier in Wien Zuckerln und Schokoladesachen auf bestimmte Abschnitte und nur eine bestimmte Menge.
Anny J. hat mir gestern aus Prag geschrieben. Sie schreibt, daß der Posten, den sie hat, nichts besonderes ist, die Firma (eine private - Münchner - Krankenversicherung) richtet sich erst ein, sie haben nicht einmal ein ordentliches Büro, das ganze Büro besteht aus zwei kleinen Kabinetten ohne Fenster und sie sind eine Menge Leute, die einer dem anderen im Wege stehen. Von einer Provision, wie man ihr versprochen hat, kann bei dem Stadium natürlich keine Rede sein und so bleibt ihr Verdienst herzlich gering (140 Mk. netto). Sie sagt, sie will sich um etwas anderes umschauen.
Warum hast Du denn noch immer kein Brennmaterial? Was ist denn das für eine schlampige Wirtschaft? Sorgt man so für seine "geliebten Soldaten"? Was ist denn, wenn Du einmal krank bist? Du hast mir noch gar nichts darüber geschrieben, wie Du über meinen Plan denkst, im neuen Jahr auf ein paar Tage zu Dir zu kommen. Wird das möglich sein und wo werde ich wohnen können? In Deinem Zimmer, aber das müßte dann geheizt sein, denn zusammen können wir doch schon gar nicht ein ungeheiztes Zimmer brauchen, dann könnten wir ja gar nichts miteinander machen.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen