Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE RUSSLAND II

Wien, 4. Juni 1943

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Kommentar

Hier ist jetzt eine so eigenartige Stimmung, es herrscht eine Stille wie vor dem Sturm. Was wird nur die nächste Zukunft bringen? Ich bin momentan ganz erschöpft vor lauter Nachdenken, Kombinieren, Schlüsseziehen und befinde mich so wie alle Menschen zwischen Furcht und Hoffnung. Was wird uns der Herbst und der Winter bringen? Wird heuer endlich eine Entscheidung sein oder muß ein neues Jahr darüber vergehen? Ich denke sehr oft über frühere Zeiten nach, wo Du noch zu Hause warst. Aber auch spätere Zeiten sind mir noch in schöner Erinnerung, am liebsten noch die Zeit, da Du in Mistelbach warst und ich Dich oft besuchen konnte. Heute erscheint mir diese Zeit vom goldensten Licht verklärt, und ich sehe sie nur noch vom blauen Himmel überwölbt in der Herbstsonne schimmern, da wir noch miteinander in den Straßen spazierengehen konnten, an dem Platz mit den Ringelspielen vorbei, oder selbst draußen bei der Kaserne, wo ich außerhalb des Zaunes, dort, wo der Bach fließt, auf Dich gewartet habe und wir hinten hinaus zu den Weingärten hinaufgingen
Alles erscheint mir heute schön an dieser Stadt, der Gasthof, wo ich genächtigt habe, und der Hauptplatz sowie der Hügel mit der Kirche und dem Friedhof, aber auch die Liechtensteinstraße, wo Dein Geburtshaus steht, und die Straße, wo man zur Kaserne hinausging und wo links an der Ecke die kleine rote Kapelle steht, Mein Gott, wenn es in absehbarer Zeit wenigstens so eine Möglichkeit geben würde, daß Du für ein paar Wochen irgendwo ins Hinterland kommst in der Nähe von Wien.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen