Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE POLEN

Wien, 4. Mai 1941

Bild klickbar



Kommentar

Ich traf mich um 6 Uhr mit Herrn Wiesmüllner bei Otto, wir übten noch ein letztes Mal und gingen dann zu Fuß in den russischen Klub, der in der Bankgasse 1, Ecke Herrengasse seinen Sitz hat. Die Klubräume nehmen so ziemlich das ganze erste Stockwerk ein und sind ziemlich finstere, ärmlich eingerichtete Zimmer. Aber es wurde dann doch sehr nett und es war mir nur sehr leid, daß ich mich krank fühlte an dem ganzen Abend. Ich war nur ganz leicht angezogen (ich hatte das braune Spitzenkleid an) und saß die ganze Zeit mit dem Mantel, als ich aber als erste zu meinem Gesangsvortrag gerufen wurde, mußte ich den Mantel ablegen und da fing ich vor Kälte dermaßen zu zittern an, daß ich fürchtete, alle könnten es bemerken. Ich machte aber keinen Fehler und sang, ohne zu stocken. Herr Wiesmüllner begleitete mich am Klavier und so ging alles gut.
Außer unserem Professor war noch ein Russe zugegen, ein Freund unseres Professors, der auf dem Klavier spielte. Dieser Freund wie auch unser Professor sind außerordentlich liebe und sympathische Menschen, typische Russen mit allen Vorzügen ihrer Rasse: liebenswürdig, heiter und sehr viel angeborene Melancholie, warm und gefühlsstark, taktvoll. Man muß ihnen zugetan sein, ob man will oder nicht.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen