Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE FRANKREICH

Wien, 2. Juni 1940

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Kommentar

Mit einem so merkwürdigen Gefühl ging ich am Mittwoch vom Bahnhof weg nach Hause. Es war mir, als wäre das Wetter plötzlich trüb geworden und die Sonne verschwunden. Ich weiß jetzt wieder leider gar nichts mehr von Dir, ob Du noch am alten Platz bist und wie man Dich empfangen hat und ob man mit der Erledigung Deiner Aufgabe zufrieden war .
Nun will ich Dir berichten, was ich seit Mittwoch gemacht habe: Ich habe wieder ein hübsches Stück von Shakespeare gelesen und zwar: Der Widerspenstigen Zähmung. Sodann habe ich das Textbuch zu Onegin gekauft und es gelesen. Freitag war ich bei Senghofer, er sagte mir, er sei noch bis Ende Juni hier. Samstag nachmittag ging ich auf den Flötzersteig zu Anny und dann auch für kurze Zeit zur Hilde. Hilde weiß gar nichts Neues von Robert. Anny hat mich eingeladen, mit ihnen allen abends in das Gasthaus am Steinbruch zu gehen, das ist oben bei der Feuerwehr Steinhof, in der Nähe der Sommerwohnung von Annys Eltern. Wir waren dort eine sehr große Gesellschaft. Wir blieben bis gegen halb 11 und gingen bei vollkommener Dunkelheit in Annys Wohnung zurück. Dort mußten wir wieder bleiben, wurden bewirtet und blieben bis gegen ¾ 1 Uhr. Als wir weggingen, schüttete es in Strömen. Ich und die junge Frau, die am Flötzersteig wohnt, gingen zu uns nach Hause und sie blieb bei uns über Nacht. Heute früh um 7 Uhr ging sie fort. Für abends waren bei meinen Eltern Herma, Hans und Fritzi angesagt, da Maxl morgen einrücken muß nach Linz zur Infanterie Nachrichtenabteilung. Als ich bei Deiner Mutter war (Vater ist über Nacht in Dienst), wurde ich von Herma abgeholt, da wir alle zusammen zu Maxls Abschied mit dem Fritzi in den Prater gehen sollten. Fritzi freute sich schon unbändig und konnte es gar nicht erwarten. Es war sein erster Praterbesuch. Er fuhr natürlich auf mehreren Ringelspielen und im Autodrom, wir alle zusammen (auch meine Eltern waren mit) im Riesenrad, Fritzi mit der Großmutter auf der Geisterbahn (sie schworen nachher, nie wieder auf einer Geisterbahn zu fahren, denn sowohl Fritzi als auch meine Mutter haben sich sehr gefürchtet vor den Skeletten und vor der Spinne, die direkt in die Haare hineinfährt), dann waren wir im Gasthaus, Maxl machte immer Aufnahmen und dann wollten wir noch zur Liliputbahn und zum Zirkus Krone, der ietzt im Prater ist und dann nach Hause. Leider kam es aber anders. Hansl und Herma wollten noch auf einem Ringelspiel fahren, wo man in solchen "Scherberln" sitzt, die während der Fahrt so hinausfliegen. Während sie nun da fuhren, geschah ein Zusammenstoß zwischen Hansl und einem hinter ihm fahrenden Burschen und Hansl erlitt eine schreckliche Wunde über dem linken Auge, die eine Gesichtshälfte war über und über blutig sowie auch Hemd und Rock und es war eine furchtbare Aufregung. Also kann er mit einer Kopfwunde morgen einrücken.
So hatte also der Praterbesuch ein "blutiges" Ende gefunden. Fritzi hat sehr geweint und ist ietzt auf den Prater nicht gut zu sprechen. Ich fand von allem Anfang an keinen Geschmack am Prater, es herrschte trotz der vielen Menschen gar keine Praterstimmung, die Menschen machten einen überreizten Eindruck. Man bekommt ja auch gar nichts zu essen, weder in den Gasthäusern noch bei den Standln und mit Einbruch der Dunkelheit hat sich das Praterleben überhaupt aufgehört, da wir doch vollkommene Verdunkelung haben. Also, da brauche ich Dir gar nichts weiter über den Prater erzählen, ein Prater ohne Lichter, ohne Würsteln, ohne Brezeln, das ist doch kein Prater! Von Roserl kam gestern ein Brief, wo sie sich für mein Beileid bedankt. Sie schreibt sehr traurig und hoffnungslos. Von Wiki schreibt sie, daß die Taubheit der Ohren noch viel ärger geworden ist und sie in ihrem Fortkommen dadurch gehindert ist. Roserl schreibt, daß Wikis Mann (Du kennst ihn ja) nun wieder dort ist, wo er schon war und daß sie ihm jetzt leider nicht helfen können. Außerdem schreibt sie viele Grüße an Dich und wir sollen nur gesund bleiben und auf uns aufpassen, denn ihre Freunde sind neben den Verwandten das einzige, was ihr geblieben ist. Sie schreibt, daß Otto viel gefaßter ist und ein bißchen Trost in dem, was er leisten kann, findet, aber sie selbst findet keinen Trost.
Heute traf ich zufällig Beppo A. Er erkannte mich von weitem in der Mantlergasse und kam gleich auf mich zu. Er machte einen heiteren Eindruck und läßt Dich herzlich grüßen. Er ist Einser - Jahrgang und muß sich demnächst stellen.
Gestern war es ganz lustig mit Pi's, es wurden fast nur Witze erzählt von den ältesten Bartwitzen bis zu den noch älteren Bobbywitzen, aber wir haben doch sehr gelacht. Ich hatte, wahrscheinlich weil ich ein bißchen Ribislwein genascht habe, einen kleinen Schwips und lachte über jeden Witz schon im vorhinein. Es hat mir auch nicht geschadet, einmal so recht von Herzen zu lachen.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen