Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE HINTERLAND

Wien, 2. April 1945

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Kommentar

Du wirst nun in den letzten Tagen sehr besorgt um uns gewesen sein, denn es gehen sicherlich die möglichsten und unmöglichsten Gerüchte über Wien bei Euch, wie wahrscheinlich auch anderswo, um. Bis zum heutigen Tag ist uns hier nichts besonders Unangenehmes zugestoßen, wir haben zwar jeden Tag durch viele Stunden Alarm (Kleinalarm und Großalarm in bunter Abwechslung), aber bombardiert ist in Wien nichts worden. Viele Flüchtlinge verlassen wohl die Stadt, auf allen Straßen, mit den Autos und viele mit der Bahn, was aber sehr große Hindernisse und Schwierigkeiten hat, da die Westbahn so gut wie nicht funktioniert, besonders auf der weiteren Strecke bei St. Pölten.
Etwas sehr Unangenehmes ist mit Herma und Fritzi passiert. Nachdem doch Vater und Herma schon vorige Woche für zwei Tage nach Steyr fahren wollten, aber wegen der Unterbrechung der Strecke nicht fahren konnten, so kam am Donnerstag abend Dein Vater zu uns und sagte, er wollte Ostersamstag früh mit dem Zug um 7 Uhr nach Steyr fahren, und fragte, ob Herma mitfahren wollte. Vater meinte, er werde ihr jedenfalls eine Reisebewilligung ausstellen. Da Freitag kein Alarm in Wien war, so hat sich Herma doch entschlossen, mit Fritzerl zu fahren. Dein Vater wollte vereinbarungsgemäß mit dem Zug um ½ 3 Uhr nach Steyr fahren, kam aber nur bis gegen St. Pölten und mußte wieder nach Wien zurückfahren. Dabei erfuhr er, daß der Frühzug, mit dem Herma gefahren war, in der Gegend von St. Pölten von Tieffliegern angegriffen wurde, wobei die Lokomotive unbrauchbar wurde, und der Lokomotivführer tot, der Heizer schwer verletzt wurde. Dieser Zug ist also nie nach Amstetten gekommen. Was ist also mit Herma geschehen? Wir müssen also jetzt mit Geduld warten, bis sie kommt oder schreibt.
Ich glaube, unser Büro wird sich schon schön langsam aufhören. Morgen sollen wir 2 Gehälter im voraus ausbezahlt bekommen, das ist doch ein Zei- chen, daß man mit einem normalen Bürobetrieb bald nicht mehr rechnet.
Ich danke Dir sehr, daß Du mich durch Deinen Vater eingeladen hast, nach Znaim zu kommen, aber vorläufig kann ich gar nichts beschließen. In Znaim scheint es mir auch gar nicht so sicher zu sein, denn die Gebiete nördlich der Donau werden ganz von Wien abgeschnitten werden, und die Besetzung wird ja auch dort vom Osten kommen, und was mache ich dann allein in Znaim, denn wer weiß, ob Du wirst dort bleiben können? Und die Tschechen sind ja dort auch zu fürchten, da bleibe ich noch lieber in Wien. Ich war gestern bei Robert, seine Familie will auch jedenfalls hier bleiben, ebenso meine Eltern und überhaupt viele Bekannte.
Mir geht es also, wie Du siehst, ganz gut, nur ist die Spannung recht groß.


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