Ruth Linhart | Reisen | Japan 2013 Teil 1 | Japan 2013 Teil 2 | Japan 2013 Teil 3

Ahorn

Grüner Tee und roter Ahorn

Japan-Tagebuch 2013

Im Herbst 2013 fuhr ich nach Japan, um das Herbstlaub zu bewundern, aber auch um Freundinnen wiederzusehen. Ich machte mir den Spaß,  meine Reisenotizen mit Haiku anzureichern, angeregt durch die traditionelle japanische Literatur, in der oft Prosa mit Poesie vermischt wird.

 

Am Tokyo-Bahnhof wieder Menschenmassen. Nur keine Panik, redete ich mir zu. Ich fand den Taxistandplatz und der Taxifahrer fand mein Hotel, das Aoyama Floracion, in dem ich schon oft abgestiegen bin. Die Rezeptionistin wollte mich ins Untergeschoß verbannen, aber schließlich landete ich in einem Zweitbettzimmer im dritten Stock. Die Einbettzimmer sind winzig, in diesem Zimmer kann ich wenigstens atmen! Ich zog also in meiner Tokyoter Bleibe ein, belegte das zweite Bett mit meinen Sachen und begab mit ins Restaurant Voila im Erdgeschoss. Hier bestellte ich einen Salade Nicoise und ein Glas Weißwein, kostete etwa 9 Euro und 4.50 Euro. Ich bin es eigentlich gewohnt, in Japan billiger zu essen.
Heute war im Fernsehen sogar ein interessantes Programm. Zuerst sah ich das Ende einer Fortsetzungsserie aus der Meiji-Zeit und dann einen Beitrag über alte Leute, die nicht ins Heim wollen und elendiglich dahin vegetieren. Zum Abschluss hieß es: Fast jeder wird in hohem Alter allein zurückbleiben. Man solle sich rechtzeitig Gedanken machen über diese Lebensphase.

 

Im Tokyo der

Tausend Lichter angekommen.

Warum erleichtert?  

 

25.11.2013

 

Und zum Frühstück schon

Stille Nacht heilige Nacht.

Aoyama Hotel.

 

Gleich elf Uhr nachts. Jetzt schüttet es draußen. Der Regen prasselt ans Fenster und es stürmt. Ich hatte Glück beim Heimkommen, aber Kyo wird nass werden. Ihr Heimweg ist ja viel weiter als meiner.
Vor zwölf Stunden kam Kyo san zu mir ins Hotel. Geschenkeaustausch. Kyo schenkt mir unter anderem einen Aufsatz, den sie während ihres Studiums an der Tokyo Universität verfasst hat „Die Problematik der Zeitlichkeit bei Hölderlin“. Kyo muss ein sehr emanzipiertes intellektuelles Mädchen gewesen sein. Sie heiratete einen Studienkollegen, eine Liebesheirat. Damals, vor mehr als einem halben Jahrhundert, war es noch üblich, dass eine Frau ihren Ehrgeiz bei der Eheschließung aufgab. Ich kenne sie nur als treu sorgende Ehefrau und Mutter. Ihr Mann starb vor einigen Jahren. Sie vertreibt sich die Zeit mit Musik und Literatur. Einige Jahre lernte sie auch Spanisch. Unsere Emails wechseln wir immer auf Deutsch, aber im direkten Kontakt sprechen wir Japanisch.
Mit der Ginzalinie der Tokyo Metoro fuhren wir zur Ginza. Im Kaufhaus Mitsukoshi besuchten wir eine Ausstellung mit wunderhübschen Tonsachen. Lauter Gebrauchsgegenstände, aber sehr schön und verspielt. Dann schlug Kyo, die eine Spezialistin für Keramik ist – ihr Vater war Kunsthändler -, noch zwei Galerien vor, aber beide hatten geschlossen, da heute Montag ist.
Zu Mittag aßen wir in dem schönen Lokal, in das mich Kyo schon öfters eingeladen hat. Es gab Sashimi, im Topf am Tisch Gedünstetes und Chawan-mushi (gestocktes Ei mit allerhand Köstlichkeiten versteckt), Tempura und noch mehr, ein richtiges prächtiges japanisches traditionelles Menü. Kyo san erzählte mir viel, von ihrem Sohn, der sicher schon gegen 50 ist und schwer zuckerkrank. Deshalb erlangte der hochintelligente Mann, der bis zum Doktorat deutsche und österreichische Literatur studiert hat, nie eine feste Anstellung. Er liest Korrekturen für eine, ich glaube, Autozeitschrift. Spät heiratete er eine Frau, die offensichtlich seine Interessen teilt, Literatur und Musik. Kyo wurde ein Enkel geboren. Er ist fünf Jahre alt und spricht noch immer sehr wenig.
Wir tranken Kaffee neben dem neuen Kabukiza-Theater. Vor drei Jahren war ich mit meiner Schwester in der letzten Vorstellung vor dem Umbau. Das neue Kabukiza ist dem alten sehr ähnlich, nur steigt dahinter ein vielstöckiger Wolkenkratzer auf. Und es soll erdbebensicher sein. Anders sind die WCs. Die Anlage ist total funktionell und ermöglicht in zehn Minuten mindestens hundert Frauen Erleichterung.

Aus dem Programmheft von Chûshingura: Die Rache ist vollzogen
Hiroko in Hamamatsu ist Mitglied einer Kabuki-Vereinigung und besorgte für uns fußfreie Spitzenplätze.
Aus dem Programmheft von Chûshingura: Racheszene
Heute wurden einige Akte des wohl berühmtesten Kabuki-Stückes gegeben: Chûshingura. Die Geschichte der 47 Rônin, die ihren Herren rächen. Dieser war im Palast des Shôgun aufgestachelt worden, sein Schwert gegen Moronô zu ziehen und musste für dieses Vergehen mit dem Selbstmord bezahlen. Er forderte von seinen Gefolgsleuten, die nun herrenlose Samurai, eben „rônin“ sind, dass sie Rache an Moronô nehmen. Sie führen die Rache tatsächlich aus. Aber bis zu diesem Zeitpunkt gibt es eine verwickelte Handlung und zehn Akte. Einige von ihnen samt dem Rachemord sahen wir heute. Im Zentrum stand –zumindest erscheint mir das so – eine Frauengestalt, nämlich Okaru, die von ihrem Vater in die Prostitution verkauft wird, um Geld für die Rachevorbereitungen aufzutreiben. Allerlei Morde und tödliche Missverständnisse passieren, bis Okaru durch die Verhältnisse gezwungen wird, Selbstmord zu begehen. Okaru ist völlig damit einverstanden, denn nur so ist es möglich, das Rachewerk zu vollenden. Eine traurige Geschichte, die aus dem Weinen nicht herauskommt. Zum Schluss dann der Höhepunkt: Der Rachemord an Moronô. Das waren tolle Szenen. In einer Winternacht wird Moronô aus seinem Versteck gezerrt. Dichter Schnee fällt auf die sonst blau gehaltene Bühne. Schnee versinnbildlicht in der japanischen Literatur und im Kabuki ja höchste Leidenschaft und Dramatik. Vor dem weißen Schneevorhang kämpften ballettartig die Samurai. Ich muss gestehen, diese Kampfszenen haben auch mir gefallen. Übrigens begehen die 47 herrenlosen Samurai nach getaner Rache natürlich alle rituellen Selbstmord.  Das wurde uns aber nicht mehr gezeigt.

 

Es schneit und schneit.

Säbel klirren und spiegeln.

Höchste Leidenschaft.

 

Tränen und Schluchzen.

Todesmutige Männer und Frauen

Im neuen Kabukiza.

 

Abschied von Kyo san. Auch ihr Mann war Gastprofessor an der Japanologie in Wien und ich übte mit ihr im Tandem Japanisch. Vor mehr als dreißig Jahren. Heute trug sie eine metallene lange Kette. „Weil sie ihr wie eine Schlange vorkam, hat eine Freundin sie mir geschenkt“, erzählte sie mir, und dass sie ihre Lieblingskette sei.
Kyo ist auch schon 79, aber obwohl sie viel über ihr Befinden klagt, sah sie gut aus und war lebhaft .

 

Kurz wie ein Windstoß.

Das Wiedersehen. Die Trennung.

Und doch Herz zu Herz.

 

Es wird immer so kurz sein, auch wenn ich wieder komme. Ein halber Tag, ein paar Stunden, ein Wiedersehen, Erinnerungen und dann „Wir treffen uns wieder!“ Beschwörend.
Aber es sind doch Höhepunkte. Sonst sind zehntausend Kilometer zwischen uns. Wie eine Welle zum Strand, so führt uns die Zeit ab und zu, alle drei oder fünf Jahre, zusammen. Wie lange noch?

 

26.11.2013

 

Gedämpfte Stimmen,

leises Klappern, Verbeugen.

Frühstück im Hotel.

 

Omote Sandô
Ein Spaziergang auf der Omote Sandô, dem breiten französisch anmutenden Boulevard, der zum Meiji-Schrein führt. Das Cafe Anniversaire besteht noch. Die Niederlassungen weltweiter Mode-Labels. Die Sonne scheint. Es ist mild.
Ich wollte H. san anrufen. Er ist ein General in Ruhe und arbeitet, so sagt Yoshi, mein Wiener Sprachaustausch-Partner, im Wolkenkratzer Tokyo Opera City Tower. Er wird mich, verhieß Yoshi, durch das Gebäude führen. Aber die Telefonnummer stimmt nicht. Meinen Heimflug habe ich bereits bestätigen lassen.

 

Louis Vuitton und

riesige Steinlaternen.

Weg zum Meiji Schrein.

 

Abends. Nachdem ich im Restaurant „Voila“ wieder dasselbe konsumiert hatte, wie gestern, kam ich in mein Zimmer und drehte den Fernseher auf. Im NHK ein Show  unter dem Motto „Onna no kokoro“, „Das Herz der Frau“. Sängerinnen, vorwiegend schon ältere Semester, viele im Kimono, gaben typisch japanische Schlager, „enka“ genannt, zum besten. Sie handeln noch immer von Liebe, Weinen und Einsamkeit, wie vor fünfzig Jahren. Ich mag diese sehr japanische Musik gerne. Sterne, Meer und vor allem der Abschied von „anata“, von „dir“, dem Geliebten, werden der pentatonischen Tonleiter folgend besungen.
 

Mild wie im Frühling.

Der Himmel heut strahlend blau.

So zeigt sich Tokyo.

 

Nach meinem Spaziergang auf der Omote Sandô begab ich mich heute vormittags mit der Hanzomon-Linie zur Station Hanzomon, denn dort in der Nähe ist das Kokuritsu genkijô, das Nationaltheater. Es stand ja wieder ein Kabuki-Stück auf dem Programm, diesmal die Mittagsvorstellung. Als ich in die U-Bahnstation kam, saß dort schon auf einer Bank Miyoko, die auch zu früh daran war. Sie ist gar schon 80, aber sehr munter. Sie läuft herum wie eine Junge. Miyoko ist wie Setsuko ihr Leben lang alleinstehend gewesen und war in ihren jungen Jahren, ebenfalls wie Setsuko, Sekretärin der Österreichisch-Japanischen Gesellschaft.
Das heutige Drama „Igakoe dôchû“ – „Die Reise nach Iga“ - aus dem Jahr 1783 war wieder wie gestern, ein Stück über Rache und die Opfer, die sie fordert. Es gab scheinbar viele Regeln, die man befolgen musste, um einen Racheakt durchführen zu dürfen. Man musste mit dem Opfer verwandt sein und durfte kein Samurai sein. Um das zu erreichen, werden Leute umgebracht oder begehen Selbstmord. Einer der Darsteller ließ sich scheiden, obwohl seine Frau schwanger war, und heiratete ein siebenjähriges Mädchen – eben um eine verwandschafltiche Bindung zu erreichen. Als die Ehefrau merkte, warum sie verworfen wurde, hatte sie wie die Heldin im gestrigen Stück volles Verständnis und wäre sogar bereit gewesen, sich umzubringen.

Zum Abschluss wieder eine fulminante Racheszene mit dem Unterschied, dass der Bösewicht gestern den Kopf abgeschlagen bekam, heute aber im tapferen Kampfe fiel.
Nach mehr als vier Stunden trennten Miyoko und ich uns wieder. Sie hatte es eilig zu einem weiteren Rendezvous. Ich vergaß, ihr meine Mitbringsel zu geben. Von ihr erhielt ich einen ganzen Sack voll Geschenken, eine Tasche, schöne Billets, japanische Suppen.

 

Schon wieder Rache.

Auch das heutige Kabuki

Opfer, Blut, Kampf und Tod.

 

Der Oriental Bazar auf der Omote Sandô bietet eine Fülle von japanischartigen Mitbringseln – unter anderem Brillenfutterale, Zahnstocherbehälter, Taschenspiegel und Teddybären mit japanischem Kimonomuster, aber auch Geschirr, Kimonos, Schmuck und  Holzschnitte. Vieles ist Ramsch und wahrscheinlich in Billiglohnländern extra für den Handel mit Exotischem erzeugt. Ich kaufte ein paar hübsche Kleinigkeiten.
Im Fernsehen wurde übrigens auch berichtet, dass heute das Tokutei-himitsu-hôan-hôritsu das Parlament passiert habe und Premierminister Abe betonte, dass es zum Schutz der Bürger diene. Dieses „Geheimnisschutzgesetz“ wird aber von vielen Seiten vehement bekämpft. In Kyoto geriet ich sogar in eine Gegendemonstration. Unter anderem wird es als Angriff auf die Pressefreiheit gewertet. Bürgerrechtler und Journalisten warnen vor einer Rückkehr Japans zu einem Polizeistaat oder gar vor einem Rückfall in den Nationalismus der Dreißigerjahre.
Große Unruhe herrscht derzeit, weil China eine erweiterte Luftraum-Überwachungszone verkündet hat, die sich mit der japanischen überschneidet.
Jedes Mal, wenn ich den Fernseher einschalte, höre ich auch etwas über die Olympischen Spiele in Tokyo 2020 und dass vor sechzig Jahren zwei Säuglinge in einer Klinik in Tokyo verwechselt worden waren. Einer sei reich, einer arm aufgewachsen. Eine DNA-Analyse hätte nun Klarheit gebracht. Das erinnert mich an den Roman „Mitternachtskinder“ von Salman Rushdie.

 

27.11.2013

 

Wie immer Weihnachtslieder beim Frühstück. Auch die Melodie von „Es wird scho glei dumpa“ wurde gedudelt, „Jingle Bells“, „Stille Nacht heilige Nacht. Heute in aller Frühe rief schon der General an. Woher hat er meine Telefonnummer. Wir treffen uns in Hatsudai, eine Station nach Shinjuku mit der Keiô-Oedo-Linie. Dort ist das New National Theatre Tokyo und der Opera City Tower.

 

Opera Plaza.

Hinter die Kulissen geschaut

dank Yoshi san.

 

Häuser von Tokyo

vom dreiundfünfzigsten Stockwerk aus

bei chinesischer Küche.


Weihnachtslieder auch am Abend. Ich aß heute Tempura im Hotelrestaurant „Voila“.
Am Vormittag fuhr ich auf Umwegen zu meinem Stelldichein mit dem General, weil mein Plan der Tokyoter U-Bahn uralt ist. Ein nettes Ehepaar führte mich im Riesenbahnhof Shinjuku ein Stück des Weges. Sie seien schon dreimal in Wien gewesen, erzählten sie mir. Trotzdem kam ich in Hatsudai ziemlich pünktlich an und der General in Ruhe erwartete mich bereits. Er ist einige Jahre jünger als ich und sieht noch ein paar Jahre jünger aus. Er trug keine Uniform, sondern ganz schlicht einen dunklen Anzug.
Er arbeitet nicht mehr in dem Wolkenkratzer, informierte er mich. Aber er habe trotzdem jemandem vom Neuen Nationaltheater gebeten, uns die Oper zu zeigen. Der „jemand“ ist laut Visitenkarte einer der Direktoren des Hauses und für Marketing zuständig. Außer dem „Opera Palace Tokyo“ befindet sich hier eine Konzerthalle und ein Sprechtheater.
Vorwiegend werden westliche Stücke aufgeführt, aber auch modernes japanisches Theater ist auf den Spielplänen. In der Oper wird heuer Rigoletto, Le Nozze di Figaro, Carmen, Madama Butterfly, Die Tote Stadt, Wozzeck, Cavalleria Rusticana und I Pagliacci, Arabella und eben auch „Rokumeikan“, eine japanische Oper, gegeben. Diese Oper nach einem Drama von Mishima Yukio und mit Musik von Ikebe Shinichiro wurde 2010 uraufgeführt.
Morgen aber ist die Wiederaufnahme von Les Contes d´Hoffmann daran, und die wenigen Kulissen für diese Aufführung stehen schon auf der schwarz gehaltenen Bühne.

Die Oper im "Neuen Nationaltheater"

Direktor U. führt uns in den Zuschauerraum, auf die Galerie, zu den Sitzen am Balkon, wo jährlich etwa zweimal der Kronprinz, der Opern liebt, Platz nimmt. Wir gelangen auch auf die Bühne und hinter die Bühne. Fotografieren darf ich jedoch nur den Zuschauerraum. Alles ist in Holz gehalten und zwar aus Japanischer Eiche und Weißeiche. Eigentlich sei es wegen der Brandgefahr verboten, Gebäude mit Holz auszustatten, aber wegen der vorzüglichen Akkustik, die Holz ermögliche, habe eine Ausnahmeregelung Platz gegriffen.
Die Tokyoter Oper hat genau 1814 Sitze (die Wiener Staatsoper hat 1709 Sitzplätze und 567 Stehplätze). „Wenn die Wiener Staatsoper zu Gast in Japan ist, dann ist der Opera Palace zu klein“, antwortet Herr U. auf meine Frage. „sie gastiert in einer großen Halle in Ueno oder in der NHK-Hall. Dort gibt es zirka 3000 Sitze.“ Die Höhe des Theaters und die Entfernung von der Bühne zu den am weitest entfernten Sitzen seien 30 Meter. Im Orchestergraben, der gehoben und versenkt werden kann, haben bis zu 120 Musikern Platz. Auf den Notenständern liegen die Noten des „Hoffmann“. Die Bühne und die Räume dahinter sind riesig. Hier können auch Lastwägen mit den Kulissen einfahren.
Natürlich sei die Oper eine staatliche Einrichtung. Sonst hätte so ein Theater gar nicht gebaut werden können, meint Herr U. lächelnd. Eröffnet wurde sie 1997. Die Besetzung der Opern bestehe in der Regel ungefähr zur Hälfte aus Ausländern und zur Hälfte aus Japanern. Besucher seien, so Herr U., hauptsächlich „retired persons“ – nicht viel anders als bei uns! Und deshalb gebe es neben den Abendvorstellungen auch viele Aufführungen am Tag. In der weitläufigen Eingangshalle kommen wir auch an der Kasse vorbei. Für morgen sind noch Karten zu haben!

Das Rathaus von Tokyo
Herzliche Verabschiedung, ein großes Dankeschön für die Führung. Der General fragt mich, ob ich im 53. (oder 54.?) Stockwerk des Opera City Tower mit ihm noch Kaffee trinken möchte. Es stellt sich aber heraus, dass er mich zum chinesischen Essen einlädt. „Hätte ich das gleich gesagt, wären Sie vielleicht nicht mitgekommen“, meint er.
Von dort oben hat man einen grandiosen Blick auf das Häusermeer von Tokyo, das sich an diesem Tag in Sonnenlicht gebadet bis zum fernen Horizont erstreckt. In der Nähe ragt der Turm des Rathauses von Tokyo in den strahlend blauen Himmel und nicht allzu weit weg dehnt sich das große Parkareal des Meiji-Schreines. Der Wolkenkratzer wurde 1996 fertig gestellt und ist 234 Meter hoch, damit das höchste Gebäude des Shinjuku-Viertels und der siebthöchste Tower von Tokyo.  

 

Am Nachmittag fuhr ich zuerst zum Tokyo-Bahnhof, der wie der Shinjuku Bahnhof mit den vielen verschiedenen Bahnlinien und Stockwerken so gar nichts gemeinsam hat mit den bescheidenen Bahnhöfen bei uns. Ich kaufe die Karte für den Narita-Express, der mich in wenigen Tagen zum Flughafen bringen soll. Dann mit der Metro zur Ginza. Obwohl ich schon so oft hier war, kenne ich mich, sobald ich ans Tageslicht gelange, nicht aus, welche Straße welche ist, und ich wende mich fragend an eine Passantin. Sie begleitet mich bis zu meinem Ziel, dem schönen Geschäft Kyukyodo, wo es wunderbare und hier wirklich typisch japanische Waren aus Japanpapier gibt. Unter anderem erstehe ich japanische Neujahrskarten. Ich kaufe nur solche mit dem bei uns bekannten Glücksmotiv Kranich. Viele sind mit Blumen wie zum Beispiel Kamelien geschmückt, die Japaner ebenfalls mit Winter und Neujahr verknüpfen.  

 

Wo welcher Ausgang?

Der Ginza-Bahnhof –

Ein Labyrinth!

 

Sonne auf der Kreuzung

Im Zentrum von Tokyo.

Mitte der Welt.

 

Zum Abschluss suchte ich das Musicaltheater Takarazuka auf. Dieses ist berühmt dafür, dass im Gegensatz zum Kabuki, wo nur Männer auftreten, nur Frauen spielen. Derzeit wird „Vom Winde  verweht“ gegeben. In die Dämmerung hinaus strömen gerade die Gäste der Nachmittagsvorstellung, ausschließlich junge und ältere Frauen. Ich werde auf einen Besuch verzichten, denn für die nächsten beiden Tage gibt es nur Restkarten direkt vor Aufführungsbeginn beziehungsweise Stehplätze.
Ich habe Kyo angerufen und gefragt, ob sie mit mir morgen Abend  „Hoffmanns Erzählungen“ anschauen möchte. Sie lehnte ab, weil es ihr zu anstrengend sei.  Ihr Heimweg von der Oper dauert zwei Stunden.  

 

28.11.2013

 

Kyo san hat angerufen. Sie möchte mit mir heute in das Nezu-Kunstmuseum gehen. Dieses ist eine renommierte Privatgalerie in der Nähe meines Hotels. Ich treffe sie dort um zwei Uhr. Vorher, um halb elf Uhr, erwarte ich im Cafe des Hotels Frau Sch.

 

Spaziergang am Morgen

Zum Aoyama Friedhof.

Letzte Momiji.

 

Aoyama Friedhof

Die Kamera macht seit gestern nur unscharfe Fotos. Was soll das wieder? Daher sind auch die flammend roten Ahornblätter im Aoyama Friedhof verwaschen! Der Aoyama Friedhof ist eine weitere grüne Lunge inmitten des hektischen Häusergewirrs von Tokyo. Heute führt mich mein Morgenspaziergang dorthin. Ein großes Areal, durch das Spazierwege und Autostraßen führen. Berühmte Menschen sind hier begraben wie zum Beispiel der Dichter Saitô Mokichi.
Frau Sch. kam mit ihrer Schwester, beide Damen über 70, die Schwester noch sehr gut beisammen, Frau Sch. selbst hat große Schmerzen im Knie. „Ich habe heute Nacht nicht schlafen können vor Aufregung“, sagt sie. Sie ist die Frau meines Studienkollegen Teizo. Als ich in den sechziger Jahren als Auslandsstipendiatin an der Erziehungsuniversität Tokyo studierte, war er Inlandsaustauschstudent. Er war etwa zehn Jahre älter als ich und nahm mich unter seine Fittiche. Teizo war Oberschullehrer und wurde später Schuldirektor. Auch seine Frau war Lehrerin. Die Beziehung blieb bestehen, locker, aber ein Leben lang. Teizo und seine Frau besuchten mich in Wien und lernten auch H.  kennen. Jedes Mal, wenn ich in Japan war, traf ich die beiden, oft in einem Cafe in der Nähe des Aoyama Hotels.
Am 3. Dezember 2010 starb Teizo, nicht an Herzversagen, wie ich vermutet hatte, da er einen Herzschrittmacher trug, sondern an Magenkrebs. Ich fragte aus Wien an, ob ich mit Frau Sch. das Grab ihres Mannes besuchen dürfe. Darauf kam keine Antwort. Aber hier in Tokyo rief sie mich an und erklärte mir unter Entschuldigungsbeteuerungen, dass sie so schlecht auf den Beinen sei, dass das Grab Teizos in Yokohama und auf einem Hang liege, dass ihre Kinder mich unter der Woche nicht mit dem Auto hinbringen könnten … Ich verstand und wir vereinbarten das Treffen im Hotel. Während Frau Sch. mir bei einer Tasse Tee viel erzählt, kommt auch der Sohn plötzlich bei der Türe herein. Er ist Professor für Psychologie an einer Universität in Tokyo und habe gerade Zeit zwischen den Vorlesungen. Er hat PC und USB-Stick mit und zeigt mir die letzten Fotos des Vaters. Teizo im Kreise seiner zwei Kinder und der Enkelin. Teizo in Fukushima, dem Ort, der auf der ganzen Welt Synonym für die Schrecklichkeit von Atomkraftwerken ist. Dort war seine Heimat. „Dieses Ryokan gibt es gar nicht mehr“, sagt Frau Sch. Und: „Zum Glück hat er das alles nicht mehr erleben müssen.“ Beide berichten, dass Teizo bis zum Schluss alles gemacht habe, was er gerne tat: Dichten, Musik, Unterrichten, „social dance“. Er habe das Genji monogatari – den tausend Jahre alten Roman über den Prinzen Genji – mit Flamenco verbunden.
Bis vor kurzem konnte ich darüber nicht sprechen. Ich habe noch nichts von ihm weggeräumt“, sagt Frau Sch. mit Tränen in den Augen. Der Sohn schenkt mir den USB-Stick mit den Fotos des Vaters. Die Tochter hat ein Billett mitgeschickt, in dem sie auf Deutsch ihren Dank ausdrückt, dass ich ihres Vaters gedenke und sie mich bittet, ihn nicht zu vergessen. Gerührt verbeugen wir uns zum Abschied und Frau Sch. drückt meine Hand, ehe sie sich, gestützt von ihrer Schwester  auf den Weg zur U-Bahn macht.

 

Habe kaum geschlafen.

Sie fasst meine beiden Hände.

Danke, Ruto san.

 

Alle sind so lieb.

Freundlichkeit, Herzenswärme.

Das ist mein Japan.

 

Im Tokyo Opera Palace. Die zweite Pause. Hier wird aus dem Lautsprecher nicht nur gebeten, dass man das Handy abschalten und nicht fotografieren soll. Hier ersucht man die Besucher und Besucherinnen auch darum, sich nicht nach vor zu beugen, weil das die Sicht der Leute dahinter beeinträchtigt. Und auch, dass man im Fall eines Erbebens auf seinem Platz sitzen bleiben möge. Auf Japanisch wird das nach jeder Pause gesagt, auf Englisch nur einmal! Jedes Mal durchfährt ein Schreck das Herz.
Auch hier gibt es in den Toiletten das automatische Wassergeräusch, damit man draußen eventuelle peinliche Geräusche nicht hört.

Plakat für Hoffmanns Erzählungen an der Oper von Tokyo
Was die Aufführung anlangt, so sind die Stimmen nicht schlecht. Arturo Chacón-Cruz singt den Hoffmann. Er ist ein junger Mexikaner, der die Rolle sogar schon an der Mailänder Scala gegeben hat. Auch die Muse Niclausse ist eine Ausländerin, Angela Brower. Die drei Frauen, Olympia, Antonia und Giulietta, sind drei verschiedene Japanerinnen, Kouda Hiroko, Hamada Rie und Yokoyama Keiko. Inszeniert wird von einem Franzosen, einem gewissen Philippe Artaud und Dirigent ist Frédéric Chaslin. Das Bühnenbild und die Kostüme gefallen mir gut. Der Hintergrund ist schwarz und es wird mit Licht und Farben gearbeitet. Die Sprache ist Französisch und die Seitentitel sind auf Japanisch – logisch, aber doch ungewohnt! 14500 Yen zahlte ich für meinen Platz auf dem Balkon. Es ist die zweitteuerste Karte, etwa 100 Euro, aber ein Supersitz.
In der ersten Pause ging ich in die riesige Eintrittshalle hinunter, die auch als Pausenraum dient. Da stand Herr Direktor U., der uns gestern geführt hatte, in Smoking und mit Mascherl steif an der Eingangstür. Als ich auf ihn zutrat, verbeugte er sich tief und bedankte sich für meinen Besuch.

 

Samtroter Vorhang.

Weißer Zylinder und Schal.

Opera Palace.

 

Kyo traf ich am Nachmittag im Nezu-Kunstmuseum. Das ist ein sehr gelobtes Privatmuseum der Vormoderne mit einem reichen Schatz an erlesenen Kunstwerken. Die habe ich aber nicht ausreichend gewürdigt. Wir betrachteten die aktuelle Ausstellung mit Teeschalen, die Nationalschatz sind. Bald zog es mich aus den dunklen, nur punktuell erhellten Räumen hinaus in den schönen Garten des Museums mit wunderbar leuchtenden Ahornbäumen.

Kyo begleitete mich zurück ins Hotel, wo ich mich für die Oper umzog und dann bis zum Opera City Tower. Sie entschuldigte sich immer wieder, dass sie nicht in die Oper mitkommen wollte, aber sie habe Schmerzen in der Wirbelsäule. Sie zog ein Stoffsäckchen aus ihrer Tasche. „Ein Geschenk für dich“, sagte sie. Die Kette, die sie das letzte Mal getragen hatte. „Aber das ist doch deine Lieblingskette!“ „Deshalb, weil ich sie so mag, schenke ich sie dir“.
Wir tranken gemeinsam Kaffee, aßen Kuchen und schwelgten in Erinnerungen an ihre Wiener Zeit vor 30 Jahren. Dann verabschiedeten wir uns und ich eilte ins Theater.
Jetzt bin ich wieder im Hotel. Ich bin froh, dass ich bis zum Schluss der Oper geblieben bin, denn der Venedig-Akt mit seinen leuchtenden Farben – alles in Rot – hat mir sehr gut gefallen. „Heim“ fuhr ich mit dem Taxi am Meiji-Schrein vorbei durch den nächtlich beleuchteten Boulevard der Omote Sandô.  

 

Alles wie im Traum.

Nachts im Taxi durch Tokyo.

Morgen der letzte Tag.

 

29.11.2013

 

Im Dunklen aufgewacht.

Um ein Uhr zittert das Bett.

Ein Erbeben – Schreck!

 

Ich sprang aus dem Bett und öffnete die Tür zum Gang. Das geht! Erleichterung. Ich fürchte immer, dass sich bei einem Erdbeben der Türrahmen verzerrt und man eingesperrt ist. Vor dem Zimmer alles still. Irgendwoher eine lachende Frauenstimme. Japaner bringt so ein kleines Erdbeben nicht durcheinander!
Ich schaltete den Fernseher ein. Eingeblendet: „Um 1.15 Uhr ein Erdbeben, acht Kilometer tief. Magnitude 4,8. Shindo 3. Keine Tsunami-Gefahr.“ „Shindo“ ist der eigentlich entscheidende Wert für die Messung eines Erdbebens, denn er gibt die Wirkung auf die Menschen und ihre Umgebung wieder. Eine Weile beobachtete ich das Textband auf dem Fernsehschirm, dann schlüpfte ich wieder unter die Bettdecke. Ich fürchtete mich vor einem nächsten, womöglich stärkeren Beben.

 

Jeden Augenblick

Kann es beben, ohne Schutz.

Was für ein Leben.

 

Ein strahlender Tag. Für die letzten beiden Nächte wurde mir ein Minizimmer zugewiesen. Ich glaube, es hat elf Quadratmeter – aber mit Dusche und WC. Ich muss mich wirklich bemühen, nicht in Platzangst zu verfallen. Heute besuche ich den Rikugi-en-Park. Dort soll es besonders schönes Herbstlaub geben, sagte Miyoko.

 

Im Rikugi-en

tausend PensionistInnen.

Bewundern Momiji.

 

Rikugi-en
Rikugi-en
Rikugi-en
Rikugi-en
Rikugi-en
 

Das feine Gespinst

roter Zwergahornblätter.

Japanischer Herbst.

 

Herbst an der Omote Sandô in Aoyama
Das letzte Mal im Restaurant „Voila“, in japanischer Transkription „Bowara“. Ich bin schon Stammgästin hier. In dem Hotel wohnen so gut wie nur Japaner, die meisten wahrscheinlich nur eine oder maximal zwei Nächte. Es ist angenehm, hier zu essen, denn ich bin als Frau allein keinerlei Ausnahme. Sogar nicht als Wein trinkende Frau. Ich beobachtete, wie der Kellner immer wieder das Glas einer mittelalterlichen Dame mit Rotwein nachfüllte.
Der Ausflug zum Rikugi-en-Park war ein Erfolg. Mithilfe des tollen Tokyoter U-Bahnsystems fand ich leicht hin. Von der Station Komagome der Nanboku Linie Hinweisschilder. Nur ein paar Minuten und schon steht man in dem überraschend kleinen Park. Er wurde Ende des 17. Jahrhunderts angelegt und ist typisch für einen Garten der Edo-Periode. Die japanische Regierung klassifizierte ihn 1953 als einen „Ort von besonderer landschaftlicher Schönheit (tokubetsu meishô). Ich machte hundert Fotos vom Teich, den verfärbten Bäumen und dem Hügel. Den bestieg ich natürlich wie die vielen anderen Pensionistinnen und wenigen Pensionisten, die den herrlichen Tag für den Parkbesuch nützten. Im Frühling, wenn die Azaleen an seinem Abhang blühen, muss es hier auch sehr schön sein.
Nachmittags spazierte ich über die Omote Sandô zum Meiji-Schrein, ein obligater Besuch bei jedem Tokyo-Aufenthalt. Vor 40 Jahren wohnte ich mit dem kleinen Thomas in der Nähe des Parks, der ihn umgibt und hielt mich oft dort auf. An einem Teich blühen Ende Mai, Anfang Juni Iris. Jetzt blühte natürlich nichts.
Torii beim Meiji-Schrein
Schautafeln zum Gedenken an Kaiserin Shôken
Am meisten Menschen kommen beim rituellen Schreinbesuch zu Neujahr zum Meiji-Schrein – zirka fünf Millionen. Heute spazierten einige japanische und ausländische Touristen durch das riesige Torii – eine Art Eingangstor für Schreine – auf das Hauptgebäude zu.  Wenn ich mich recht erinnere, besteht das Torii aus Zedernholz, das aus dem damals von Japan besetzten Taiwan hertransportiert wurde. Der Schrein wurde 1920 im Angedenken an Kaiser Meiji und seine Gattin Kaiserin Shôken errichtet. Auf dem Weg zur Haupthalle waren Schautafeln zum Gedenken an die Kaiserin aufgestellt. Manchmal wurde ich schon Zeugin einer Hochzeit, manchmal eines rituellen Tanzes. Dieses Mal  vollzog gerade ein kannushi – ein shintôistischer Priester – ein Gebet. Trommeln dröhnten durch das weitläufige Gelände. Ich wendete mich aber gar nicht zu der Menschentraube um die Haupthalle des Schreins, sondern kaufte ein Votivtäfelchen. „Für eine gute Heimreise und Gesundheit für alle“ oder etwas Ähnliches schrieb ich darauf und hängte es zu den anderen „ema“.
Auf der Omote Sandô kehrte ich in der Patisserie Francaise Colombin ein und bestellte „hotto keiki“ – Pfannkuchen nach japanischer Art.

 

Glitzernder Christbaum.

Geschirrklappern, Gemurmel.

Cafe Colombin.

 

Leider bin ich etwas unruhig. Angst vor Erbeben. Angst vor dem Flug. Ich bestellte ein Taxi für morgen früh um acht Uhr. Die Hotelrechnung musste ich schon beim Einchecken begleichen: Für sechs Nächte zirka 90 000 Yen,rund 650 Euro. Ohne Frühstück. Das kostet 1200 Yen wie vor fünf Jahren.

 

Jetzt ein Schluck Wein.

Damit mein Herz leichter wird.

Nervös in Tokyo.

 

30.11.2013

 

Tokyo Bahnhof

Alles klappte wie am Schnürchen. Das Taxi kam sogar zu früh. Am Tokyo Bahnhof machte ich noch Abschiedsfotos. Das Rätsel der unscharfen Bilder hat sich aufgelöst. Ich hatte die Kamera aus Versehen auf „art“ – also „Kunst“ eingestellt! Nun ist die Hälfte des Fluges vorbei. Dank Psychopax-Tropfen bin ich einigermaßen ruhig. Mit dem Film „The sound of music“ vertrieb ich mir einige Zeit. Und jetzt fliegen wir sehr weit im Norden, am nördlichen Eismeer entlang. Knapp nach dem Abflug  schenkte  mir Japan noch einen besonderen Anblick:

 

Der Fuji schneeweiß

thront auf dem Wolkenmeer.

Grandioser Abschied.

 

Fuji
Ruth Linhart | Reisen | Japan 2013 Teil 1 | Japan 2013 Teil 2 | Japan 2013 Teil 3 Email: ruth.linhart@chello.at