Ruth Linhart | Reisen | Japan 2013 Teil 1 | Japan 2013 Teil 2 | Japan 2013 Teil 3

Ahorn

Grüner Tee und roter Ahorn

Japan-Tagebuch 2013

Im Herbst 2013 fuhr ich nach Japan, um das Herbstlaub zu bewundern, aber auch um Freundinnen wiederzusehen. Ich machte mir den Spaß,  meine Reisenotizen mit Haiku anzureichern, angeregt durch die traditionelle japanische Literatur, in der oft Prosa mit Poesie vermischt wird.

 

20.11.2013

 

Vollmond am Morgen

In einem Himmel weißblau.

Heute nach Kiso.

 

Vollmond“ heißt „mangetsu“ auf Japanisch.
Nachts. Im Ryokan Tatsuya in Kisofukushima. Heute kann ich nicht mehr lange schreiben, denn Hiroko san liegt nur durch Papiertüren getrennt im Nebenzimmer.

Narai
Narai
Um neun Uhr vormittags Aufbruch. Drei Stunden Fahrt nach Norden über Bergstraßen ins Kiso-Tal. Es liegt im südwestlichen Teil der Präfektur Nagano in Zentraljapan:. Wir durchquerten enge Täler, fuhren auf gewundenen engen Straßen, bergauf, bergab. Dicht von Wald bedeckte Hügel begleiteten uns. Bambus und Hinoki, die japanische Zypresse wachsen dort und viele andere Pflanzen, die ich nicht kenne. Das Laub nicht herbstrot, sondern die Wälder gelb-orange-ocker gefleckt. Bei der Stadt Iida weitete sich das Tal. Die japanischen Alpen waren zu sehen. Hohe Bergketten, schneebedeckt, leicht gewellte Grenzlinien zwischen Himmel und Gipfeln. Autobahn, Tunnels. Schließlich gelangten wir ans erste Ziel, den Ort Narai am ehemaligen Nakasendô.
Schirm mit Kirschblüten
Nakasendô hieß die Straße, die in der Tokugawazeit (1603-1867) über das Landesinnere von Edo nach Kyoto führte -  im Unterschied zum Tôkaidô, der Straße entlang der pafizischen Küste  oder wörtlich übersetzt, Ostmeerstraße. Narai war eine der 69 Poststationen am Nakasendô. Wir spazierten die schöne Hauptstraße entlang, gesäumt von traditionellen japanischen Holzhäusern. Sie sind sogar zum Teil noch bewohnt. Eine Erinnerung stieg in mir auf, dass ich vor 22 Jahren schon einmal mit Imai san hier gewesen sein muss.
An diesem kalten grauen Novembertag waren nur wenige Touristen zu sehen. Einige Andenkengeschäfte. Die Spezialität von Narai scheinen Regenschirme in leuchtendem Rosa zu sein. Wenn sie nass werden, tauchen hunderte Kirschblüten auf. Gerne hätte ich zwei gekauft, einen für mich, einen für meine Schwester. Sie kosteten 2500 Yen. Aber ich weiß nicht, ob ich genug Bargeld mit habe und so hielt ich mich zurück.
Im Tokkuri-ya
Im Tokkuri-ya
Wir schoben die dunkelbraune Eingangstür eines der alten Häuser zurück, das als Café gekennzeichnet war. „Hier hat Shimazaki Tôson angefangen, sein Buch `Yoake mae´ zu schreiben“, erzählte uns als erstes der alte Mann, der an einer im Boden eingelassenen Feuerstelle saß.
Das ganze Kiso-Tal ist heute vor allem wegen diesem Dichter und seinem Hauptwerk berühmt. Denn seine Familie führte viele Generationen lang die Poststation von Magome. Sein Roman handelt vom Niedergang der Familie und der Poststationen in der Meiji-Zeit. Nach der Öffnung gegenüber dem Ausland vollzog sich ja in Japan ein grundlegender Wandel in allen Bereichen des Staates und der Gesellschaft, dem viele traditionelle Institutionen zum Opfer fielen.
Und eben, hier in Narai, hier im „Tokkuri-ya“, hat Tôson die berühmte erste Zeile des Romans geschrieben: „Die Kiso-Straße liegt vollkommen in den Bergen …“  (kiso-ji ha subete yama no naka de aru ….)

 

Grüner Tee, heiß. Und

Tôson beginnt seinen Roman,

im Tokkuri-ya..

 

Tomoe Gozen und Kiso Yoshinaka
Der Vasall Imai Shiro Kanehira
Tomoe Gozen

Die nächste Station: Das Museum für Kiso Yoshinaka und seine kriegerische Gefährtin Tomoe Gozen.  Kiso Yoshinaka ist eine der Helden des japanischen Kriegsepos „Heike Monogatari“ aus dem 13. Jahrhundert und für mich interessant, weil Imai Shiro Kanehira Milchbruder und Vasall dieses Kiso Yoshinaka war. Imai Shiro Kanehira wiederum soll der Überlieferung nach ein Ahnherr meiner Imai san gewesen sein, an deren Biographie ich werke. Vor dem Museum thronen auf einem Podest die lebensgroßen Statuen von Yoshinaka und Tomoe.
Und im Museum konnte ich weitere realistische Darstellungen dieser drei Personen bewundern. Tomoe Gozen ist eine der wenigen Kriegerinnen der japanischen Geschichte. Sie soll sehr schön und eine gefürchtete Kämpferin gewesen sein und Yoshinaka bedingungslos ergeben.
Im Pamphlet des Museums ist zu lesen, dass sie die Schwester des Imai war, historisch belegt ist das, glaube ich nicht. In der Schlacht von Awazu 1184 starb Kiso Yoshinaka. Tomoe wollte mit ihm in den Tod gehen, aber Kiso Yoshinaka lehnte das ab. Und zwar, weil es eine Schande gewesen wäre, sich von einer Frau in seinem letzten Kampf begleiten zu lassen. Er nahm stattdessen Imai Shiro Kanehira mit. Als dieser die Kunde von Yoshinakas Tod vernahm, soll er sich umgebracht haben, indem er von seinem Pferd sprang und sich dabei das Schwert in den Mund stieß.

Die Schlacht von Awazu 1184
Der Angestellte des Museums war zuerst ziemlich unwirsch, wurde dann aber auf die Fragen Hirokos immer redseliger und überhäufte uns schließlich mit gedrucktem Material. Ich durfte ihn, Hiroko und die lebensgroße Puppe des Imai Shiro Kanehira fotographieren.
Dann fuhren wir in der sinkenden Nacht in den Hauptort des Kiso-Tales, Kisofukushima.


 
 
  

Blumen auf dem Futon.

Blumen auf Yukata und Socken.

Ryokan Tatsuya.

 

Ryokan Tatsuya

Unser Ryokan ist blitzsauber. Wir bezogen das kleine, aber nette zweigeteilte Zimmer und  wärmten uns anschließend im heißen Wasser des O-furo. Dann genossen wir ein kaiseki ryôri oder Festessen mit Köstlichkeiten der Gegend und der Jahreszeit: Pilze, Äpfel, Schwarzbeeren, Bohnen. Natürlich gab es alles von Sashimi über Chawan mushi, Gedünstetes und Gebratenes, Fleisch und Fisch und viel Gemüse. Aber in mehr oder weniger homöopathischen Portionen.  Wir tranken auch ein Fläschchen Sake dazu.
Draußen ist es bitterkalt und schneit leicht. „Heuer ist der Winter besonders früh dran“, sagte die in einen Kimono gekleidete Wirtin. „Sonst schneit es immer erst im Dezember.“


21.11.2013

 

Guten Morgen – kalt!

Bald geht es ins O-furo.

Kisofukushima.

 

Es ist zehn Uhr nachts und wir sind wieder zurück in Hamamatsu. Hier ist mir immer zu kalt. In Tsumago gab es ärmellose Jacken zu kaufen, die am Rücken gefüttert sind. Die traditionelle Heizung ist ja der kotatsu, eine Heizung unter dem Tisch. Da wird einem nur vorne warm. Wenn man eine dieser Jacken erstand, bekam man einen Papiersack mit einer herzigen Katze aufgedruckt. Die Säcke allein konnte man nicht kaufen, die Jacke brauche ich nicht. „Dort, wo Ruto san daheim ist, ist es drinnen warm, auch wenn es draußen kalt ist,“ sagte Hiroko zur Verkäuferin. „So wie in Hokkaidô“, antwortete diese.

Frühstück im Ryokan Tatsuya
Gleich nach dem Aufstehen stiegen wir ins heiße Wasser. So ein O-furo ist schon eine herrliche Einrichtung! Dann das Frühstück! Sagenhaft! Ein großes Tablett mit lauter kleinen Fächern. In jedem etwas drin – ein Ei mit Nori, ein Stücklein Fisch, diverse eingelegte Gemüse. Reis und Suppe gab es extra.
Shimazaki Tôsons Schwester Sono und ihre Kinder
Beim Zahlen die große Überraschung: es kostete doppelt so viel als ich dachte. Der Preis ist 16 000 Yen für eine Person! 34 000 Yen zahlte Hiroko. Ich lade sie ein, lieh mir aber von ihr das Geld, denn ich habe Angst, nicht genug bares Geld mitzuhaben. 34 000 Yen sind zirka 260 Euro.
Danach Aufbruch zu einem Museum mit Material über Shimazaki Tôsons Schwester Sono, die im Roman „Yoake mae“ Okume heißt. Dorthin kommen wohl wenig Gäste, überhaupt um diese Jahreszeit. Ein traditionell japanisches Haus umgeben von einem Garten. Ein alter Herr lässt uns ein, die Tochter oder Schwiegertochter verabschiedet uns. Sono, die 1856 bis 1920 lebte, war eine Vorfahrin dieses Hauses. Tôson erzählt in dem Roman, dass seine ältere Schwester knapp vor der geplanten Heirat einen Selbstmordversuch machte. Sie erholte sich wieder und wurde schließlich in das Haus verheiratet, in dem wir heute waren.
Auch sie wurde später psychisch krank so wie ihr Vater.
Der Roman mit der Familiengeschichte Tôsons wurde in den 1950iger Jahren verfilmt.


Licht im Suzukigras.

Orange trocknen die Kaki.

Brennendes Kiso-Tal.


Landschaft im Kiso-Tal
Kaki Baum im Kiso Tal

Anschließend fuhren wir durch die herrliche Landschaft nach Tsumago. Hohe Hügel, steil aufsteigend vom Tal und mit buntem Herbstlaub gesprenkelt. Es sah aus, als ob es brennen würde. Der Fluß Kiso windet sich durch, grün und schäumend. Die Ufer sind von kleineren und größeren Felsbrocken bedeckt. Immer wieder die weißen Wedel des Suzukigrases und Bäume ohne Blätter, aber dafür voller roter Kakifrüchte. An einer Stelle der Ausblick zum Berg Ondake, der 3000 Meter hoch ist. Leider verdeckten ihn dichte Wolkentürme. An einer anderen Stelle zeigte sich uns der mächtige Schneeberg Ena, 2000 Meter hoch.
In Tsumago hielten wir uns kurz auf. Ein traditioneller Ort wie Narai. Viele Andenkengeschäfte, aber eher diskret in den alten Häusern einquartiert.
Die Hauptattraktion des Kiso-Tales ist sicher Magome, der Heimatort von Shimazaki Tôson. Zwischen Tsumago und Magome gibt es einen beliebten Wanderweg, der in zirka drei Stunden zu bewältigen ist. Nach Magome geht es steil bergauf. Die Kiso-Straße mit ihrem bergauf-bergab war für die Lastenträger der alten Zeiten sicher nur mit großer Mühe zu bewältigen. Auf dieser Route wanderten ja nicht nur einzelne Reisende und kleine Gruppen, sondern mehr hunderte oder gar tausende Träger umfassende Reisezüge der Adeligen, die zwischen Edo und ihren heimatlichen Fürstentümern verkehrten. Während der Zeit des abgeschlossenen Landes mussten die Lokalfürsten jeweils ein halbes Jahr in Edo verbringen und ihre Frauen dort lassen.  

Buntes Laub in Magome beim Tôson-Museum
Gedenkstein für den Dichter Shimazaki Tôson
In Magome kam zugleich mit uns zumindest eine Schulkasse Oberschüler an. In ihren schwarzen Schuluniformen bevölkerten sie den Ort und drängen auch in das kleine Restaurant, in dem wir uns mit Udon-Nudeln wärmen.  Anschließend besuchten wir das Tôson-Museum, das dort errichtet wurde, wo die ehemalige Poststation stand. Am besten gefiel mir das herrliche bunte Laub im Garten der Anlage. In der Kiefer vor dem Eingang werkten drei Männer. Sie beschnitten den Baum nicht nur, sondern klaubten sogar alle braunen Nadeln ab. Sie bräuchten dafür eine Woche, sagten sie.
Zum Abschluss tranken wir im nächsten Ort Nakatsugawa in einem schönen „Teehaus“ namens Kawakami-ya grünen Tee und aßen mit Maroni gefüllte Kaki-Kuchen.
Für die Heimfahrt nahm Hiroko die Autobahn. Wir durchquerten wunderschöne Landschaften und erlebten aus dem Autofenster einen spektakulären Sonnenuntergang. Am Hamana-See, schon bei Hamamatsu, stiegen wir nochmals aus und spazierten zum Strand. Über der großen blauen Wasserfläche funkelte der Abendstern.
Im Hamana-See leben viele köstliche Wassertiere, Krebse und Muscheln. Berühmt für Hamamatsu sind die Aale. Also kaufte Hiroko noch Aalfilet und setzte es mir zu Hause als Abschiedsessen vor. Aaal, unagi auf Japanisch, sei in den letzten Jahren doppelt so teuer geworden, erzählte sie. Weil es immer weniger gibt.


Ein Stern am Himmel.

Hamana-See und Dämmerung.

Wie köstlich der Aal.

 

Suzuki Gras

Später zeigte sie mir den Plan für ihr neues Haus. Sie und ihr Mann sind schon erstaunlich. Herr S. wurde ein halbes Jahr vor seiner Pensionierung bei der Aufzugsfirma Schindler gefeuert. Daraufhin kaufte er einem alten Bekannten eine Firma für Aufzugreparaturen ab. Der Hauptsitz ist in Nagoya, in Hamamatsu ist eine Zweigstelle. Herr S. ist 68, Hiroko ist 64. Der Sohn, 34, wird als Nachfolger aufgebaut. Auch der ältere Sohn, der in Tokyo lebt und in der Computerbranche arbeitet, wird mitmachen.
Die Firma geht gut und das Ehepaar baut sich ein neues Haus, größer als das jetzige. „Dort kannst du auch wohnen“, sagte sie, denn ein Zimmer mit Tatami für Gäste sei geplant. Das junge Paar, der Sohn und die Braut Kae, sollen in das bisherige Haus der Eltern übersiedeln. Ich frage, ob sich die Jungen darüber freuen. „Wir haben sie nicht gefragt,“ antwortet Hiroko.

 

22.11.2013

 

Ein Pagodendach

auf dem Haus gegenüber.

Sonnenaufgang.

 

Heute letztes Frühstück mit Hiroko. Dann wieder Abschied. Aber Hiroko möchte in zirka zwei Jahren mit ihrem Enkelsohn nach Wien kommen. Kae brachte mich zum Bahnhof, weil Hiroko einen Vortrag halten musste, soviel ich verstehe bei der Polizei. Ich fragte nicht worüber.

 

Männer in Grau und Blau

blättern in einer Zeitung.

Hikari fährt ein.

 

Im Shinkansen saß eine kleine Dame neben mir, zart, graue Löckchen hochgesteckt, unjapanisch weiß und blitzblau angezogen, rosa Gesichtchen. Wahrscheinlich eine Mischung zwischen Japan und Okzident. In Kyoto fuhr ich mit dem Taxi zum Hotel Via Inn Shijo Muromachi. Einchecken erst um 15 Uhr – wie meistens in Japan.
Ein Anruf für mich sei hereingekommen, erklärte mir die Rezeptionistin. Fumi san! Auf ihren Anruf hatte ich gewartet, aber mein japanisches Handy ausgeschaltet! Ich solle nach Nara kommen. Sie übermittelte mir auch die Uhrzeiten der Züge. Aber bitte, wie soll ich mit ihr in Kontakt treten, ich habe ihre Telefonnummer in Nara nicht.

Maruzen
Also ließ ich mein Gepäck im Hotel und suchte das Maruzen, eine alt eingesessene Buchhandlung, die auch ausländische Bücher führt und die schon vor mehr als hundert Jahren in einem Gedicht von Ishikawa Takuboku vorkommt. Ich fragte in zwei anderen Buchhandlungen. Das Maruzen existiert nicht mehr! Es ist wohl dem Internet-Buchhandel zum Opfer gefallen.
So schlenderte ich auf der Shijo-dori, quasi der Hauptstraße von Kyoto und in den Seitenstraßen herum. Dabei fand ich die Nishikikoji-dori. Das ist ein überdachter Markt, so ähnlich wie ein türkischer Bazar. Ursprünglich war es wohl ein Fischmarkt, aber heute drängen sich auch viele anderen Verkaufsstände und kleine Geschäfte dort. Auch solche mit japanischen Taschentüchern, Furoshiki – Einwickeltüchern -, Fächern, Keramik, also mit Waren für Touristen. Eine lustige und bunte Atmosphäre. Ich trank in einer Bäckerei Kaffee und aß ein Sandwich.

 

Bunte Geschäfte.

Tee, Austern, Bohnen, Geschirr.

Nishikikoji dori.

 

Zurück im Hotel hatte Fumi wieder angerufen und ihre Telefonnummer hinterlassen. Für eine Fahrt nach Nara war es nun zu spät, aber Fumi werde ihrerseits nach Kyoto kommen, ließ sie mir ausrichten. Und bald darauf erschien sie tatsächlich in der Lobby. Sie hätte mit mir einen zirka zweistündigen Spaziergang in Nara, der uralten Kaiserstadt mit den vielen schönen Tempeln und Schreinen, geplant. Die momiji, das verfärbte Herbstlaub, sei gerade wunderschön. Wie schade!
Fumis Mann war vor einigen Jahren Gastprofessor an der Wiener Universität und wir übten im Tandem Deutsch und Japanisch. Sie liebt Blumen, Reisen und die Oper wie ich und wir freundeten uns an. Sie ist auch schon über 60, aber hat kaum Falten, lange dunkelrot gefärbte Haare. Immer ist sie geschmackvoll und besonders angezogen, so auch heute mit dunkelroter Kappe, Schal und Handschuhen. Aber sie hat Probleme beim Gehen. Ihr Mann, seit einigen Jahren in Pension, hält an sechs Privatuniversitäten in Tokyo Literaturvorlesungen. Sie pendeln zwischen Nara, wo sie ein Haus haben und ihrer Mietwohnung in Tokyo. Früher sang sie bei der „shimin-opera“ – Bürgeroper – in Tokyo mit. Sie hat mir einmal auch DVDs der Aufführungen geschenkt, zum Beispiel sang sie im Chor von „I Pagliacci“ und „Cavalleria Rusticana“. Aber zum Singen komme sie jetzt nicht mehr. Ihre Mutter ist 93 und  dement. Sie lebt bei der jüngeren Schwester auf Shikoku.
Wir saßen in der Lobby nebeneinander und erzählten uns hastig ein bisschen aus unserem Leben. Dann begleitete ich sie zur U-Bahnstation an der Shijo-dori. Leider kann sie nicht mit mir essen gehen, sagte sie, weil sie am Abend zurück in Nara sein muss. Kurz, zu kurz, dieses Wiedersehen! Aber doch besser als gar kein Wiedersehen.
Ich spazierte dann allein durch die engen Gassen hinter der belebten Hauptstraße und kehrte in einem Lokal ein, in dem auch andere Personen alleine saßen. Ich aß kaki furai, panierte Austern, eine meiner Lieblingsspeisen. Sieben Uhr abends und in der Nishikikoji-Straße ließen die Geschäfte schon die Rollläden herunter. In den Teramachi-Arkaden war aber noch high life. Auf der belebten Shijo-dori schlenderte ich bis zur Brücke über den Kamo-Fluss und zum hell erleuchteten Theater Minami-za.

 

Nächtlicher Spaziergang.

Im Kamo-Fluß spiegeln Lichter.

Erinnerungen.

 

23.11.2013

 

Momiji rot, gelb.

Die Stadt im Morgenlicht.

Kiyomizu-dera.

 

Schließ die Augen.

Pagoden, roter Ahorn.

Das ist kein Traum.

 

Räucherstäbchen.

Vor den gelben Lampen.

Opa mit Enkel.

 

Überraschend still

am Fuß der großen Bühne.

Da, ein Laubbläser!

 

Der Kiyomizu-dera in Kyoto
Abends. Ich habe 16 Karten geschrieben, die CD mit Jonas Kaufmann angehört  und ein bisschen den Stadtplan von Tokyo studiert.
Heute in der Früh strahlendes Wetter. Nach dem Frühstück beschloss ich spontan, im Taxi zum Kiyomizu-dera zu fahren. Diese schöne Tempelanlage im Osten Kyotos, nicht weit vom Stadtzentrum in den Hügeln, liebe ich besonders. Es war noch vor neun Uhr, als mich der Taxifahrer am Fuß des Kiyomizu-zaka aussteigen ließ. „Später wird heute hier ein ungeheures Gedränge sein“, vermutete er.
Dieses Wochenende, gestern, Feiertag und heute Sonntag, ist wahrscheinlich einer der zwei touristischen Höhepunkte des Jahres für Kyoto. Die Kirschblüte und das Herbstlaub ziehen Massen von Touristen aus ganz Japan an. Schon im März war kaum mehr ein Quartier für dieses Feiertagswochenende zu bekommen.
Beim Kiyomizu-dera
Aber am frühen Morgen gingen nur vereinzelte Touristen auf den Tempel zu. Die Luft war klar. Der Himmel strahlend blau. Die vielen Bäume, in die der Tempel eingebettet ist, leuchteten rot.
Ich spazierte zu der Terrasse des Tempels, auch Bühne genannt, von der aus man die Stadt Kyoto, jetzt im reinen Weiß, überblickt. Dann durch den Park bergab, vorbei an der Wasserstelle, wo die Pilger aus einer Kelle für alle Wasser trinken und sich reinigen.
Die Bühne des Kiyomizu-dera in Kyoto
Vorbei an dem Teich, von dem aus sich eine der beliebtesten Postkartenansichten des Tempels ergibt.
Zu Fuß zurück durch die nun schon belebtere Gasse, die hinab auf die Höhe der Stadt führt. Viele kleine Andenkengeschäfte, auch mit dem berühmten Kiyomizu-yaki, weißblaues Porzellan. Ich kaufe zwei Teetassen aus Ton mit Ahornblättern darauf, eine ist kleiner, eine größer, für Frau und Mann!
Vorbei am Yasaka-Schrein, wieder in die Shijodôri, über die Kamo-Brücke. Der Kamo-Fluß jetzt in hellem Meerblau.
Der Fluß Kamo in Kyoto
Setsuko kam um elf Uhr ins Hotel. Klein, eine Handvoll Mensch. Sie geht mit Stock. „Weil dann die Leute freundlicher sind,“ sagte sie. Der Arzt hat gesagt, sie müsse damit rechnen, jederzeit tot umzufallen. Vor Jahren hatte sie ein Aneurysma der Hauptschlagader. „Ich habe fast 80 Jahre gelebt, das ist schon genug“, meinte sie. Aber der Gedanke an den Tod macht ihr doch Stress. Sie lebt allein in Kobe, wo sie Schuldirektorin war. Vor einem Jahr fasste sie den Entschluss, ein Altersheim in Tokyo, ihrer Heimatstadt, zu beziehen. „Ich habe schon alles hergeschenkt“, erzählte sie, „und wollte meine Wohnung in Kobe verkaufen.“ Im letzten Augenblick konnte sie sich nicht dazu überwinden, „von jetzt an mit 100 Leuten zu essen, wo ich doch bisher immer allein gegessen habe!“
„Wohin willst du?“ fragte sie mich. „Momiji sehen!“ Setsuko beriet sich mit der Rezeptionistin. „Heute sind überall so viele Leute“. Wir beschlossen, zu einem shintôistischen Schrein im Norden der Stadt zu fahren, dem Sansen-in. Man kommt öffentlich dorthin, muss aber einige Male umsteigen. Was mir sonst nie auffällt, zeigte sich nun: In den Stationen muss man ununterbrochen Stiegen hinauf und hinunter gehen. „Daijôbu“, beruhigte mich Setsuko. „Ist schon in Ordnung, ich sage, wenn es nicht mehr geht.“ Überall unvorstellbar viele Menschen. Bei der Eisan-Linie reihte sich eine lange Warteschlange schon vor der Station. In ein Taxi. Der Sansen-in ist zu weit. „Fahren wir zum Manshu-in.“ Endlich dort angekommen, eine weitere Warteschlange vor der Eintrittskasse. Unmöglich für Setsuko, hier im Stehen zu warten. Wir bewunderten kurz die leuchtenden Farben der Ahorne vor der Tempelmauer und bestiegen ein Taxi zurück zum Stadtzentrum. Wenig später  würde es kein einziges freies Taxi mehr geben.
... die leuchtenden Farben der Ahorne
Setsuko lud mich in ein Sukiyaki-Restaunant im Kaufhaus Takashimaya ein. Vor allen Restaurants der „Fressstrasse“ im obersten Stockwerk lange Sesselreihen mit Wartenden. Wir warteten auch. Dann bequeme Sitzgelegenheit und ein „Sukiyaki-teishoku“, ein Sukiyaki-Menü. Das heißt, das Sukiyaki wurde schon fertig auf einem Teller serviert und nicht am Tisch vor unseren Augen zubereitet. Herrliches Fleisch, vielleicht vom berühmten Matsuzaka-beef. Da werden die Rinder anscheinend mit Milch gefüttert und täglich gebürstet. 3500 Yen kostete die Portion. Nicht gerade billig!
Plaudern, viel über Krankheiten, Tod, alte Mütter und eigene Leiden. Ein bisschen Erinnerungen, ein bisschen Politik. Setsuko, aus Samuraigeschlecht, ist immer eine Linke gewesen, und wie es scheint bis heute geblieben. Aber die chinesischen Aggressionen um eine kleine Inselgruppe im Ostchinesischen Meer machen ihr Sorgen.
Irgendwie scheint mir Setsuko immer die Gleiche zu sein. Aber das ist nicht möglich. Als sie mich 1967 in Yokohama vom Schiff abholte, war sie 33 Jahre jung. Heute ist sie eine alte Dame von 79 Jahren.
Abschied bei der Bahnstation auf der Shijo-dori inmitten Menschengetümmels. „Ich warte, bis du weg bist“, sagte ich bestimmt. Normalerweise bestehen die Japaner auf dieser höflichen Geste mir gegenüber. Und bald verschwand die kleine schmale Figur Setsukos, gestützt auf ihren Stock, in der Menge.


24.11.2013

 

Kalte Tatami.

Kimonos der Taisho-Zeit.

Mit Mitsuko san.

 

Heute früh noch Kyoto. Ich machte einen Spaziergang durch die Muromachi-Straße bis zum Kaiserpalast. Dann kam Mitsuko ins Hotel, im Seidenkimono. Sie studierte neuere Literatur bei Imai sensei und lebt als „freie Wissenschaftlerin“. Sie scheint sich so recht und schlecht durchzubringen und unterrichtet an vier Universitäten in Osaka und Himeji. Sie lehrt „Aufsatz schreiben“ und über die beiden Dichter Miyazawa Kenji und Akutagawa Ryunosuke.
Kabuki ist zu teuer. Tokyo ist zu teuer. Und eine Auslandsreise nach Wien erst recht. Sie schaut total unverbraucht aus. Zirka um die 50 muss sie sein und hat keine Falte. Vor fünf Jahren beim letzten Rendezvous durchzogen einige Silberfäden ihr kurzes Haar.  Jetzt sind sie ganz schwarz.
Wir tranken Kaffee und besichtigten dann eine wunderschöne japanische Villa in der Nähe des Hotels, das Shiorian-Museum. Das Gebäude wurde laut Prospekt um 1880 erbaut und später umgebaut und ergänzt. Heute ist es ein „tangible cultural property of Kyoto“ und ein  „Historic Medical Research Institute“. Von letzterem merkten wir nichts. Ich hätte eher von einem Kimono-Museum gesprochen. Wir kamen durch zwei westlich eingerichtete und großzügige japanische Räume. Von einer Terrasse aus kann man das Gionfest im Sommer beobachten. Die Kimonos sind, wie ich verstand, aus der Taishô-Zeit und haben zum Teil sehr extravagante Muster: Autos, Zigaretten, westliche Gegenstände, Waffen, aber auch edle traditionelle Blumenmuster. Zum Abschluss wurde uns in einem der westlichen Zimmer Matcha und Bohnenkuchen – yôkan – serviert.
 Anschließend lud ich Mitsuko in das Restaurant ein, in dem ich unlängst kaki furai gegessen hatte. Mitsuko konnte nicht aufessen. Sie deutete auf den breiten Obi ihres Kimono. Dann wartete sie mit mir bis das Taxi kam. „Tanoshikatta“ – etwa, „Es war sehr nett“ – sagte sie zum Abschied.

Auslagen in Kyoto: Geta und Fächer
Auslagen in Kyoto: Geta und Fächer
Viele Sorten von grünem Tee
In einem Geschäft für Kimonos
Überall "uma" - denn 2014 ist das "Jahr des Pferdes"

 

Ich war eine Stunde zu früh am Bahnhof! Dort war die Hölle los. Alle, die das Wochenende in Kyoto verbracht hatten, wollten heim! Der Nozomi war bummvoll. Ich fuhr zum ersten Mal mit diesem schnellsten der Shinkansen-Züge, denn mit dem Japan Rail Pass darf man ihn nicht besteigen. Dieses Mal hätte sich aber ein Japan Rail Pass, der doch ziemlich teuer ist, für mich nicht rentiert und so kam ich in den Genuss des Nozomi, was zu deutsch „Wunsch“ oder „Hoffnung“ bedeutet. Der einzige Unterschied zum Kodama (Echo) und Hikari (Licht) ist, dass er zwischen Kyoto und Tokyo nur einmal hält und zwar in Nagoya. Ich wollte die Fahrt mit meiner Kamera dokumentieren, aber nach dem zweiten oder dritten Foto wurde sie heiß und rührte sich nicht mehr. Dabei sah man so schön den Kamo-gawa und vor allem den Fuji. Überwältigend in dieser Tagesendstimmung. Zu schade, dass die Kamera steckte. In Tokyo angekommen hatte sie sich wieder beruhigt und zog locker das Objektiv ein.

 

Verbeugt sich höflich:

Fahrkarten bitte sehr.

Schaffner im Nozomi.

 

Blau spiegelnd im Licht

Mit weißen Steinen garniert.

Der Kamo-gawa.

 

Grüne Terrassen.

Rund, dunkel, verheißungsvoll.

Tee in Shizuoka.

 

Mit 300 kmh

rasend durch die Landschaft.

Ein Reiher im Fluss!

 

Orange leuchtend

im dunklen Grün der Bäume.

Mikan-Plantage.

 

Ein Hauch von Fuji

Im weiß-grau-blauen Himmel.

Schon die Dämmerung.

 

Fuji in voller Pracht.

Bleibt nur das innere Auge.

Die Kamera streikt.

 

Der Schnee geschmolzen.

Um die Mitte ein Wolkenband.

König der Berge.

 


Ruth Linhart | Reisen | Japan 2013 Teil 1 | Japan 2013 Teil 2 | Japan 2013 Teil 3 Email: ruth.linhart@chello.at