Ruth Linhart | Frauen der ersten Stunde | Texte
Mit den österreichischen Gewerkschafterinnen beim Int. Frauenseminar in La Brevier 1953
»Die Verwaltung aufzubauen, das war das
Allerschwierigste«, schildert Valerie K. in einem Satz jene Aufgabe, die
ihr in den Nachkriegsjahren zum Lebensmittelpunkt wurde.
Wenige Tage vor
ihrer Übersiedlung in ein Pensionistenheim stellt sich die 80jährige
für ein Interview zur Verfügung, inmitten des Aufbruchs aus einer
Wohnung, in der sie den Großteil ihres Lebens verbracht hatte, einer
Wohnung, die angefüllt von Zeitzeugnissen in Mappen, Kästen und
Regalen ist. Zwischen Bücherrücken fällt ein gerahmtes Farbphoto
auf. Die abgebildeten jungen Frauen sind ihre Nichten. Valerie K. hat keine
Kinder. Und ihr Ehemann starb 1947 auf tragische Weise, nachdem er die
Schrecken des Krieges als Soldat überstanden hatte.
»April 1945, welche Erinnerungen verbinden Sie damit?«
» 1945 im April hatte sich die Arbeit überall aufgehört.
Die russischen Truppen hatten Budapest eingenommen und näherten sich Wien.
Fast alle Leute sind zu Hause geblieben. Man hatte ja keine Ahnung, was sich
abspielen wird. Auch ich wagte mich nicht mehr auf den langen Weg von der
Linzer Straße, wo ich wohnte, zu meinem Arbeitsplatz in der Wiener
Gebietskrankenkasse im ersten Bezirk. Das Kriegsende erlebte ich im Keller des
Wohnhauses meiner Eltern, eines Gemeindebaus in der Nähe
Die Russen
kamen, anders als erwartet, vom Westen, vom Tiergarten her die Linzer
Straße herein. Auf einmal standen in der Nacht russische Soldaten bei uns
im Keller. Am nächsten Vormittag sind sie wiedergekommen. Ich bemühte
mich, mit ihnen russisch zu reden, ich hab russisch gelernt. Wir sind in die
Wohnung hinaufgegangen, die Mutter hat ihnen etwas aufgewartet, aber sie waren
ganz unzugänglich, haben die Laden aufgerissen, herausgenommen, was ihnen
gefallen hat, uns die Uhren weggenommen. Weiter haben sie uns nichts getan.
Am Abend haben wir uns dann verkleidet. Ich war damals auch noch eine junge
Frau. Ein paar Tage hatten wir große Angst. Meine Eltern waren beide zu
Hause. Mein Vater hatte als Metallarbeiter in einer nahen Fabrik gearbeitet,
aber dorthin konnte er überhaupt nicht mehr zurück, denn die
Besatzung hat bald alle Maschinen abtransportiert. Was sie nicht weggebracht
hat, wurde zum Teil demoliert.«
» Waren Sie glücklich über das Kriegsende?«
»Zunächst hatte man eine gewisse Hoffnung. Man hat gedacht,
jetzt ist doch einmal ein Ende des Schreckens, aber dann schwirrten soviele
Gerüchte unter den Leuten, die ganze Stadt war voll davon. Man hat
befürchtet, daß die Russen uns zu einem Agrarstaat machen wollen,
ja, die Industrie beseitigen. Erst im Laufe der Monate und Jahre hat sich
erwiesen, daß dem nicht so ist.
Mein Mann war schon seit Anfang des
Krieges eingerückt, zuerst in Frankreich; im Sommer 1941 wurde er nach
Rußland geschickt. Er wurde auch schwer verwundet. Im April 1945 hatte
ich keine Ahnung, wo er sich aufhält. Später erzählte er mir,
daß er in Znaim war. Die Offiziere hatten sich alle aus dem Staub
gemacht. Als die Soldaten hörten, daß im Westen die Amerikaner
kommen, haben sie sich zu Fuß nach dem Westen bis Oberösterreich
abgesetzt. Dann konnte mein Mann aber auch noch lange nicht nach Wien, weil die
Demarkationslinie an der Enns dazwischen lag. Er schrieb aber wenigstens,
sodaß ich wußte, wie es ihm geht. Direkt in Kriegsgefangenschaft
war er nicht. Vorerst blieben die Soldaten wohl beisammen, bis sie von den
Amerikanern einen Schein bekamen, daß sie frei sind. Er hätte
vielleicht früher heimkommen können, aber er traute sich nicht. In
der amerikanischen Zone wußte man ja nicht, was in der russischen vor
sich geht.«
»Sie waren in der Zwischenzeit in Wien bereits aktiv?«
»Ja, ich mußte sehr aktiv sein. Damals war ja die schwierigste und die dringendste und die meiste Arbeit zu tun. Gleich nach Kriegsende, ganz spontan, fanden sich an meiner Arbeitsstelle, der Wiener Gebietskrankenkasse, die »Männer der ersten Stunde« ein, Leute, wie der Abgeordnete Franz Heigelmayer oder Robert Uhlir; viele von ihnen hatten früher hier gearbeitet und waren dann entlassen oder eingesperrt worden. Alle, die am ersten Tag nach Kriegsende in Wien waren, haben sich dort versammelt und bildeten einen Arbeiterrat. Dazu riefen sie auch mich. Ich war bei den illegalen Sozialisten, wir haben uns alle schon gekannt, seit vor 1934, wir haben die ganze Zeit heimlich Veranstaltungen organisiert und untereinander Informationen ausgetauscht. Es war eine Gruppe, die wußte: >Wenn es soweit ist, müssen wir etwas Neues aufbauen.Planen konnte man das nicht, denn niemand hatte eine Ahnung, was sich und wie es sich zu Kriegsende abspielen würde. Es hätte ja auch die ganze Stadt zerstört sein können wie Budapest.«
» Welche Funktionen hatten Sie in der Wiener Gebietskrankenkasse?«
»Ich absolvierte die Handelsschule, war dann Sekretärin in
einer Teppichfirma und bewarb mich 1928 über eine Annonce in der
Arbeiterzeitung bei der damaligen Krankenkasse der Handelsangestellten.
Ursprünglich gab es viele kleine Krankenkassen, auch mehrere
Angestelltenkassen. Noch vor Dollfuß waren bereits Bestrebungen für
einen Zusammenschluß im Gange. Doch man vermochte sich nicht zu einigen,
denn wenn es nur mehr eine Krankenkasse gab, brauchte man doch nicht sechs
Direktoren! Im Februar 1934 wurden alle sozialistischen Verwaltungsdirektoren
verhaftet, und wir bekamen einen Regierungskommissär.
Wir, die
Krankenkasse der kaufmännischen Angestellten, sind als erste mit der
christlichsozialen Wahlkrankenkasse verbunden worden. Im Jahr 1937 wurden dann
die restlichen Angestelltenkassen vereinigt und wir zogen in die Mariahilfer
Straße. Als die Nationalsozialisten kamen, war wieder eine große
Revolution. Man vereinigte die Angestelltenkrankenkasse mit den Arbeitern, die
in der Wipplingerstraße zu Hause waren. Dorthin wurde ich im November
1939, wie ich annahm strafweise, versetzt.
Wir hatten nämlich in
unserer Krankenkasse besonders viel jüdische Angestellte, denn es gab ja
auch im Handel viele jüdische Arbeitnehmer. Man hat uns daher auch "die
jüdische Kasse" genannt. Ich war vom Anfang an im Direktionssekretariat
und mußte die gesamten Personalagenden führen. Als dann 1938 die
Nazis die Macht übernahmen, haben sie sofort mit einem Federstrich alle
jüdischen Angestellten außer Dienst gestellt und in der Folge ohne
irgendwelche Ansprüche fristlos entlassen. Diese Angestellten haben sich
bemüht, ins Ausland zu emigrieren, aber zu diesem Zweck mußten sie
eine Bestätigung vorlegen, daß sie in Österreich keine
Steuerschulden haben. Um diese zu bekommen, mußten sie sich wiederum an
ihre Dienststelle wenden, und dort saßen in der Personalabteilung die
Nazis. Denn als erste wurde natürlich diese mit eigenen Leuten besetzt.
Ich mußte in die Buchhaltung übersiedeln. Die jüdischen
Kollegen haben sich in der Folge meistens an mich um Rat gewandt. Diese
Kontakte waren jedoch verboten. Wir haben uns zwar hinter einen Vorhang
gestellt, aber Spitzel waren überall, und so wurde ich zum neuen Direktor
gerufen. Der gab mir den Rat, diese Zusammenkünfte zu unterlassen. Wenige
Tage später mußte ich von einer Stunde auf die andere in die
Wipplingerstraße.
Im April 1945 wiederum hat man die Nazis sofort aus
der Krankenkasse eliminiert. Sie mußten aus den Akten ausgehoben, es
mußte ihnen geschrieben werden, kurz, man brauchte jemand, der sich in
der Personalabteilung auskannte, der wußte, wer ein PG, ein
Parteigenosse, war. Dem bisherigen Abteilungsleiter traute man nicht zu,
daß er im Sinne der neuen Verwaltung arbeiten wird, und so sagte man mir
gleich am ersten Tag, daß ich die Leitung der Personalabteilung der
Wiener Gebietskrankenkasse übernehmen muß.
Ich sollte den
flüssigen Verwaltungsablauf des Betriebes wiederherstellen. Das wurde
dadurch sehr erschwert, daß wir gerade in unserem Büro einen
großen Bombentreffer gehabt hatten. Die Akten waren zum Teil kaputt, zum
Teil verschüttet. Für Büromaschinen gab es keinen Strom, also
mußte man alles mit der Hand schreiben. Die Leute warteten auf ihr
Gehalt, aber niemand zahlte Beiträge, so konnten wir nur Akonto-Zahlungen
überweisen, jedoch nicht über die Postsparkasse wie bisher
üblich, weil es keine Postsparkasse mehr gab ...
Es fanden auch
große personelle Umstellungen statt. Sehr viele Leute mußten neu
aufgenommen werden; viele, die vorher diskriminiert worden waren, die keine
Arbeit hatten und die sich über eine Verbindung an uns wandten. Andere
waren geflüchtet, ins »Altreich«, oder wollten die Entwicklung
der Lage abwarten und kamen gar nicht mehr in den Betrieb zurück.
Das
alles hat sich jahrelang hingezogen. Neue Gesetze wurden beschlossen, und man
mußte die Maßnahmen im nachhinein mit diesen Gesetzen in Einklang
bringen.«
» Wie war das menschlich? Spürten Sie Genugtuung oder Mitleid gegenüber den ehemaligen Nationalsozialisten? War es peinlich, sie zu entlassen?«
»Das war ganz verschieden, je nachdem, um wen es sich handelte. Es gab Kollegen, die waren sehr nett und bereit, mitzuarbeiten, andere waren pikiert. Zum Teil war es natürlich peinlich. Meinem Chef, der lange Jahre mein Abteilungsleiter war, der mich 1939 mehr oder weniger angefordert hatte, dem mußte ich ganz einfach sagen: 'Sie gehen jetzt da von Ihrem Schreibtisch weg und ich setz mich her!' Das mußte man halt hinter sich bringen. Aber ich blieb dann unangefochten. Allerdings waren die meisten männlichen Angestellten im entsprechenden Alter 1945 noch eingerückt, an der Front, in Gefangenschaft und kamen erst im Laufe der nächsten Jahre zurück. Da waren natürlich viele, die fanden, sie hätten mehr Anspruch auf meine Position gehabt. Da wurde man auch angefeindet. Aber ich kann nicht sagen, daß es bei mir besonders arg war. «
»Engagierten Sie sich auch in der Politik oder in der Gewerkschaft?«
Ja, sehr. Ich wurde einige Male als Arbeiterkammerrat gewählt. Bei
der Gewerkschaft der Privatangestellten war ich von der ersten Stunde an
tätig. Viele, vielleicht 20 Jahre, war ich Vorsitzende der Frauenabteilung
der Privatangestelltengewerkschaft. Gleichzeitig wurde ich, weil ich ja die
Gewerkschafterinnen vor 1934, wie Käthe Leichter und Wilhelmine Moik noch
gekannt hatte, sofort in den Österreichischen Gewerkschaftsbund in der
Ebendorferstraße gerufen ... das heißt, der ÖGB wurde erst
allmählich aufgebaut.
Es wurde auch gleich ein Frauenreferat
gegründet, zuerst ohne Satzungen. Frau Moik wurde Vorsitzende, und ich war
ihre Stellvertreterin. Das alles ist rasch gegangen, ohne besondere Wahlen, das
wäre auch gar nicht möglich gewesen. Zuerst hat sich die Verwaltung
organisiert, und dann kamen erst die Mitglieder.«
»Sie müssen ja ununterbrochen im Einsatz gewesen sein!«
»Das war wirklich der Fall. Wir hatten ununterbrochen Dienst und Sitzungen, auch am Samstag und am Sonntag. Aber man hat es nicht als arg empfunden. Ich war damals erst Anfang 40 und man hat viele Jahre darauf gewartet, aktiv werden zu dürfen. Jahrelang hat man das ja gar nicht mehr erhoffen können! Man war damals schon optimistisch, aber auch ängstlich, denn man wußte nicht, ob sich alles so normalisieren wird, wie es dann geschehen ist.«
»Für das Privatleben hatten Sie demnach wenig Zeit?«
»Das mußte ganz außer acht gelassen werden. Mein Mann
kam zurück und hatte keine Arbeit. Vor dem Krieg war er Fotograf, aber
diese Branche war jetzt nicht gefragt. Er wurde schließlich beim
Jugendamt der Gemeinde Wien angestellt. Doch er hat sich immer beklagt,
daß ich überhaupt nicht greifbar bin, nie da. Und immer hab ich ihn
vertröstet: 'Aber das geht ja vorüber, das wird wieder anders werden,
das ist halt der Anfang.' Ja, es gab schon Konflikte.
Im April 1947 ist er
gestorben, bei seiner Arbeit. Er mußte Jugendheime besuchen. Es waren
sehr viele Heime nötig, weil viele Kinder sehr arm, sehr unterernährt
waren. Aus der Schweiz und aus anderen Ländern wurden Lebensmittel
gespendet. In diesem Zusammenhang war er viel im Außendienst. Bei solch
einer Rückfahrt nach Hause im Dienstauto, ein Chauffeur lenkte, zwei
Fürsorgerinnen saßen im Fond, geriet das Auto ins Schleudern. Die
drei anderen blieben völlig unverletzt, aber er war sofort tot. Er war
noch nicht einmal 37! Danach habe ich erst recht viel Zeit gehabt
»Dachten Sie je an eine neue Beziehung?«
»Zum Wiederheiraten hätte ich gar keine Zeit gehabt. Ich hab mich mit aller Kraft in die Arbeit hineingestürzt.«
» Wünschten Sie sich Kinder?«
»Eine Zeitlang war ich bemüht, keine Kinder zu haben, dann war ich eine Zeitlang bemüht, welche zu haben, aber das ist eben nicht gelungen. Es war ja auch wenig Möglichkeit, weil mein Mann den ganzen Krieg hindurch an der Front war. 1947 war ich 42 Jahre alt, da hat sich diese Frage nicht mehr gestellt.«
» Wie hat damals die Frauenarbeit in der Gewerkschaft ausgesehen?«
» Wir haben uns für die Rechte der Frauen eingesetzt. Die Nazigesetze mußten aufgehoben werden; die Arbeitszeit, das Nachtarbeitsverbot für Frauen, Schichtarbeit, alle diese vielen sozialpolitischen Gesetze mußten beschlossen und vorher in unseren Gremien beraten werden. Ein sehr großes Problem, das uns jahrelang beschäftigt hat, war die Frage des Karenzurlaubes. Das war eine Idee, die früher gar nicht existierte. Vor allem die Frauensekretärin im ÖGB, die Rosa Weber, und die Wilhelmine Moik haben sich besonders für den Karenzurlaub eingesetzt. Das mußte alles mit der ÖVP und mit den Kommunisten ausgehandelt werden. Die waren damals sehr stark und angriffslustig, vor allem, solange sie noch eine Besatzungsmacht hinter sich hatten. Sie wurden aber schon vor 1955 immer schwächer. Wir Sozialisten waren alle bereits lange politisch geschult und stellten uns auf die Hinterfüße.«
»Man hört oft, daß Frauen von den heimkehrenden Männern aus dem Berufsleben gedrängt wurden.«
»Es ist alles an Arbeitskräften gebraucht worden, was da war.
Es war ein sehr großer Arbeitskräftebedarf, wir hatten wirklich eine
Aufbaukonjunktur. Viele Männer sind erst fünf, sechs Jahre nach
Kriegsende aus Rußland heimgekommen. Man nahm viele Arbeitskräfte
auf, Männer und Frauen. So viele Frauen waren übrigens gleich gar
nicht zur Verfügung. Denn nicht alle konnten sofort in den Beruf
eintreten. Sie hatten zu Hause Schwierigkeiten mit der Existenzsicherung. Viele
waren ausgebombt und brauchten zuerst einmal ein Dach über dem Kopf.
Das Verlangen nach gewerkschaftlicher Arbeit war damals unter den Frauen
sehr groß. Wir haben Wochenendseminare in großer Zahl gemacht, wir
konnten gar nicht alle Frauen aufnehmen, die sich zu Schulungen
meldeten.«
»Welche anderen politischen Erinnerungen haben Sie?«
»Der Staatsvertrag hat mir keinen besonderen Eindruck gemacht. Die Verhandlungen haben sich jahrelang hingezogen. Man hat gesagt: "Das wird man nie erleben!" Nun, und dann war er halt auf einmal da. Ich war im Mai 1955 mit meiner Schwester auf einer Reise in die Schweiz.«
»Hat sich für Sie die Wiedergutmachung und Entnazifizierung zufriedenstellend entwickelt?«
»Die Wiedergutmachung war eine meiner Hauptaufgaben! Nach 1945
haben sich alle unsere kaufmännischen Angestellten und sehr viele
jüdische Ärzte, die emigriert waren, wieder gemeldet, schriftlich
oder persönlich, und ihre Wiedergutmachungsansprüche gestellt. Das
ist alles auf meinem Schreibtisch gelandet. Die Leute in der Direktion hatten
von den früheren Sachen keine Ahnung, und am Anfang hat sich in
Österreich auch niemand dafür interessiert.
Ich saß von
1928 bis 1938 einer Kollegin, einer Jüdin, am Schreibtisch gegenüber;
sie war wirklich eine sehr bedeutende Persönlichkeit und hat mich - ich
war ja ein Waserl - sozusagen in die Arbeit genommen und nach allen Seiten hin
ausgebildet. Sie und andere haben mir nun aus Amerika mit Briefen zugesetzt: '
Es muß eine Wiedergutmachung geben!' Ich spielte sozusagen die
Vermittlerin und mußte zum Hauptverband der
Sozialversicherungsträger und zu den Abgeordneten hausieren gehen. Es hat
noch jahrelang gedauert, bis es zur Wiedergutmachung kam. Am Anfang haben mich
alle immer abgeschoben und dann, als doch die diesbezüglichen Gesetze
beschlossen worden waren, hätte es auf einmal nicht mehr schnell genug
gehen können.
Unter anderem wurde bestimmt, daß die Dienstzeit
bis zu einem bestimmten Zeitpunkt angerechnet und die Leistungen nachbezahlt
werden. Die Ministerien prüften die von uns erarbeiteten Unterlagen. Das
hat ja Millionen Schilling ausgemacht.
Vielleicht war meine Bemühung
in der Sache einer der Gründe, warum ich 1960 das Goldene Verdienstzeichen
um die Republik Österreich erhalten habe.
Auf der einen Seite die
Juden und auf der anderen Seite die Nazi, das waren schon komplizierte Sachen
damals! Über die ehemaligen Nationalsozialisten haben wir endlos Listen
machen müssen, über den Grad ihrer Belastung. Von den Leuten, die
1945 hinausgeworfen worden sind, wurden später nur mehr sehr wenige wieder
eingestellt.«
»Hatten die aus der Emigration Zurückgekehrten mit Vorurteilen zu kämpfen?«
»Nein, diejenigen, die aus der Emigration zurückgekommen sind, haben es nicht schwer gehabt; zumindest vom Verwaltungsstandpunkt her waren sie rehabilitiert.«
»Sie haben in Ihrem Betrieb eine leitende Funktion innegehabt. Waren Sie als Frau eine Ausnahme?«
»In der Krankenkasse kann ich mich an keine Frau erinnern, die eine ähnliche Karriere gemacht hätte. Hier waren die Männer immer tonangebend. Frauen in leitenden Positionen gab es auch sonst wenig, aber viele in unteren und mittleren Bereichen.«
»Haben Sie sich bewußt für eine Karriere entschieden?«
»Ja, man mußte das schon wollen. Man mußte bereit sein, Aufgaben zu übernehmen. Kinder hatte ich keine und ich war seit jeher politisch interessiert. Ich wurde 1930 schon auf die Arbeiterhochschule geschickt, in den einzigen Jahrgang, der für Frauen veranstaltet wurde. Nachdem ich immer gerne und viel und vor allem Politisches gelesen hatte, hatte ich anderen viel an Wissen voraus. «
»Strebten Sie auch Spitzenpositionen an?«
»Nein, diesen Ehrgeiz hatte ich nicht, das wäre mir peinlich
gewesen. Es war schon eine Zeit die Rede davon, nachdem Rosa Weber so
plötzlich gestorben war. Ich habe immer nur in der Weise Ehrgeiz gehabt,
daß ich alle Arbeit klaglos und ohne viel Aufheben über die
Bühne bringe.
Ich übernahm auch sehr viel Gewerkschaftsarbeit,
doch auf die Dauer war mir das zuviel. Und so haben wir uns bemüht, eine
Frauensekretärin im Frauenreferat des ÖGB anzustellen. Ich fragte
damals die Kollegin Metzker, ob sie Lust habe. Sie sagte zu, und dann haben wir
den Kampf begonnen, daß die Gewerkschaft sie anstellt. Das war nicht
leicht! Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte man sich vielleicht auf
mich kapriziert. Aber ich hatte das Gefühl, diese Stelle könnte ich
nicht ausfüllen, so ganz im Vordergrund. Dazu hatte ich nicht genug
Courage.«
R.L.
Publiziert in: Frauen der ersten Stunde, Europa-Verlag, Wien, 1985, S. 176-185
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Ruth Linhart | Texte | Email: ruth.linhart(a)chello.at |