Schnee in der japanischen Literatur: Wie Kirschenblüten und Herbstlaub gehört er zu den gängigen Naturmetaphern von Haiku und anderen Gedichten. In berühmten Liebesgeschichten wird Schnee zum Kontrapunkt heißer Leidenschaften.
"Als der Zug aus dem langen Grenztunnel herauskroch, lag das
Schneeland vor ihm ausgebreitet. Die Nacht war weiß bis auf ihren
Grund." So beginnt der Roman "Schneeland" von Yasunari Kawabata, dem
Nobelpreisträger für Literatur von 1968. Shimabara ist ein Mann aus
Tokyo, hat Familie, Vermögen und vertreibt sich die Zeit mit Hobbies wie
dem Studium des westlichen Balletts. Im Sommer wandert er in die Berge, im
Winter entspannt er sich im Schiort Yuzawa in der Präfektur Niigata, dem
"Schneeland" Japans. Hier trifft er die Geisha Komako. Sie liebt ihn, heftig
und hoffnungslos.
Komako ist nach ihrer Arbeit betrunken zu Shimamura ins
Zimmer gewankt. Ständig versichernd, gleich zu gehen, verbringt sie die
Nacht bei ihm.
"Sie wandte sich dem Spiegelschränkchen zu, das an
ihrem Kopfkissen stand. `Jetzt endlich ist es hell geworden. Ich gehe.´
Shimamura sah zu ihr hin, ließ aber den Kopf sofort wieder sinken.
Blendend weiß schimmerte der Schnee der Berge dort in dem Spiegel und
mitten darin leuchteten ihre roten Wangen. Es war eine unsagbar reine
Schönheit. Die Sonne stieg bereits, denn der kalte brennende Glanz des
Schnees im Spiegel verstärkte sich mehr und mehr. Gleichzeitig wurde das
violette Schwarz ihres im Schnee schwebenden Haares immer
dunkler."
Shimamura bleibt angesichts von Komakos Herzensnot
Ästhet. "Je bedrängender sie war," beobachtet Shimamura, mit
für japanische Romanhelden des 20. Jahrhunderts typischem Selbstmitleid,
"desto mehr steigerte sich seine Qual und das Gefühl, sich dem
wirklichen Leben langsam zu entfremden. Er spürte die Kälte seines
Herzens und verharrte gleichsam unbewegt. Es war ihm im Grunde vollkommen
unverständlich, warum Komako sich ihm so vollkommen hingab. Ihr ganzes
Wesen ließ sie auf ihn überströmen, aber von ihm selber ging
offenbar nichts zu ihr hinüber. Als häufte sich Schnee in ihm, so
hörte er wie durch ein vielfaches Echo, daß Komako sich sinnlos an
eine Wand stieß."
Kawabata läßt die Erzählung in
einem Flammeninferno enden. Er gibt der hinreißend geschilderten
Schneelandschaft jene Bedeutung, die sie in der japanischen Liebesliteratur
immer wieder hat: Hintergrund und Symbol für mühsam gebändigte
Leidenschaften, für die Erotik des Verzichts, vor allem von Frauen.
Harmloser ist der Umgang mit Schnee in der Lyrik.
Die japanische
Dichtkunst ist nicht in den Gebirgsregionen zu Hause, wo Schnee monatelang das
Leben bestimmt, sondern vom milden Klima der kulturellen Zentren Kyoto und
Tokyo geprägt. Hier schneit es manche Winter gar nicht, und so bleibt der
Schnee exotisch, romantisches Dekor für höfische Dichter, Quelle
für lyrischen Frohsinn, Metapher für Alter und Tod.
An Tagos Küste/ Tret ich heraus aus dem Schatten,/ Um ihn zu
schauen:/ Strahlend weiß lag der Schnee/ Auf dem Gipfel des Fuji.
Der Hofdichter Yamabe Akahito schrieb dieses Tanka im achten Jahrhundert,
das japanische Schulkinder noch heute auswendig lernen. Um 900 dichtete ein
anderer Klassiker:
Wie weißes Mondlicht/ Im ersten
Morgendämmern/ Erscheint er mir fast/ Auf die Dörfer von Yoshino/
Fällt weißer Schnee herab.
Schnee ist wie die
Kirschblüte Symbol für die Schönheit des Augenblicks, die
Lebensfreude im Hier und Jetzt und zugleich für die Vergänglichkeit
des Daseins. Beide Bilder werden auch zusammengefügt:
Nicht Schnee
von Blüten,/ Die der Sturm vom Baume riß,/ Bedeckt den Garten;/ Was
sich auf mich herabsenkt,/Ist nur die Last der Jahre.
Auch die Haiku-Dichter thematisierten den Schnee. Matsuo
Bashô dichtete:
Sogar die verhaßte Krähe ist
schön/ an einem Schneemorgen.
Chiyo-ni, eine Dichterin:
Auf
Feldern und Bergen/ nichts, was sich bewegt/ Schneemorgen.
Und Masaoka
Shiki:
Großer Budddha/ Auf seiner entblößten Schulter
der Schnee/ ist geschmolzen.
Für die Hofdame Sei Shonagon ist der Schnee, wie für die Lyriker, eine meteorologische Delikatesse. In ihrem als "Kopfkissenbuch" in die Weltliteratur eingegangenen Skizzenheft über ihr Leben um das Jahr 1000 meint sie etwa: "Was vornehm ist - Schnee auf Pflaumenblüten". Oder: "Was ans Herz rührt - Ein Gebirgsdorf im Schnee." Die Dame, die durch Wandschirme und Bambusvorhänge auf die Pseudonatur ihres Gartens spähte, hat sicher nie mit eigenen Augen ein Gebirgsdorf gesehen.
Eine bezaubernde Schneekulisse erdenkt sich Murasaki Shikibu für das Liebespaar Ukifune und Prinz Niou. Murasaki ist Zeitgenossin und Berufskollegin von Sei Shonagon und Autorin des berühmtesten japanischen Romans "Die Geschichte vom Prinzen Genji". Prinz Niou ist von Kyoto durch einen Schneesturm zur Geliebten ins Bergdorf Uji geritten und hat sie nächtens über einen reißenden Fluß entführt. "Endlich trat die Morgensonne heraus, die von der Dachtraufe herabhängenden Eiszapfen glänzten in ihren Strahlen und Ukifune sah in dem wundervollen Lichte hübscher aus als je. Ihre gestärkten und nur weißen Gewänder, die sie fünffach übereinander trug, sahen mit ihren langwallenden Ärmeln bis hinab zum Saum sehr edel aus und schöner als allzuviele bunte Gewänder. Prinz Niou hatte eine so ungezwungene Gewandung bisher auch bei Damen, die ihm nahestanden, noch nie gesehen und so bewegte ihn dieser Anblick sehr." Wie üblich dichtet der Liebhaber für seine Dame:
Über den Schneegipfel und das Eis an dem Ufer schritt ich hinweg, habe mich nicht verirrt, aber liebesverwirrt ist mein Herz.
Die Geschichte von Oshichi, der Tochter des Gemüsehändlers, hat noch unmittelbarer mit Schnee zu tun. 1683 wurde die Sechzehnjährige verbrannt. Oshichi läßt sich in einer Schneenacht verbotenerweise mit Kichisaburo ein. Kennengelernt hat sie den Knaben, als sie nach einer Feuersbrunst mit den Eltern in einem Tempel Zuflucht fand. Erfaßt von der "Liebessucht" legt sie Feuer, weil sie hofft, so erneut mit dem Geliebten zusammenzukommen. Saikaku Ihara erzählt in seinen "Fünf Geschichten von liebenden Frauen" diese und andere wahre Begebenheiten seiner Zeit. Das Schicksal Oshichis bewegt seit damals Leser - und Theaterpublikum. In einer aktuellen Kabuki-Fassung läutet Oshichi in einer Schneenacht die Feuerglocke, weil sich dann die Stadttore öffnen und sie zu ihrem Geliebten kann. Auch darauf steht die Todesstrafe. Oshichi klettert, gekleidet in einen leuchtend roten Kimono und mit aufgelösten schwarzen Haar auf den Glockenturm. Während dieser lange ausgedehnten Szene fällt dichter Schnee.
Schnee als kühler Vordergrund, hinter dem die heiße Liebe umso mehr lodert. Weißer Schnee, rot und schwarz die liebende Frau, ein ästhetisches Bild um seiner selbst willen. Und Schnee, der beruhigt, die Tragik abschwächt, verschleiert. Bemerkungen über Zusammenhänge zwischen japanischer Natursicht und Sentimentalität drängen sich auf: Angesichts einer strengen Kontrolle über jedes spontane individuelle Gefühl sei eine begrenzte Anzahl von "sicheren" Situationen geschaffen worden, in denen Gefühle zum Ausdruck gebracht werden dürfen, schreibt ein gewisser Weston La Barre. In Japan war die Angst vor ungedämmten Gefühlen ebenso groß wie vor den ungezähmten Kräften der Natur. Stereotype Beschwörungen der Kirschblüte, des Mondes und des Schnees lenken von der Gefahr der Erdbeben, Überschwemmungen und Feuersbrünste ab. In der Überhöhung der Kunstwerke stillen sie Sehnsüchte und erlauben Tränen in regulierten Kanälen. Sentimentalität ersetzt die Erfüllung von Bedürfnissen, die zwischenmenschliche Harmonie und soziale Stabilität gefährden. Wer sich damit nicht zufrieden gibt, wird bestraft - liebeskranke Frauen wie Oshichi mit dem Tod!
Mittlerweile ist das alles Schnee von gestern. Der Roman "Kitchen" von Banana Yoshimoto, Bestseller aus dem Jahr 1988, zeigt geänderte Verhältnisse. Wieder geht es um eine junge Frau, die verliebt ist, nur, die passive Japanerin aus unserem Klischee ist nicht mehr da! Mikage, der Name erinnert im Japanischen an Granit, ist alleinstehend und berufstätig. Eines Nachts folgt sie einer spontanen Idee und fährt mit dem Taxi zu dem Ort, wohin sich Yuichi, ihr Freund, zurückgezogen hat, womöglich, um Selbstmord zu begehen. Mikage klettert über die Fassade des Hotels in sein Zimmer. Er ißt mit Genuß das Schnitzel, das sie ihm mitgebracht hat, und kehrt ins Leben zurück. Freudiger Schneefall folgt: "Wieder in meiner Herberge schlüpfte ich schnell in meinen Futon ... Plötzlich vor der Zimmertür die aufgeregte Stimme meiner Chefin, die gekommen war, um mich zu wecken. `Mikage, bist du auf? Es schneit, es schneit!´ `Ja, ich bin schon wach´, rief ich und stand rasch auf. Dann zog ich mich an. Ein neuer Tag in der Wirklichkeit hatte begonnen. Immer wieder, immer wieder würde ein neuer Tag beginnen."
Die zitierten Prosa-Stellen stammen aus folgenden Büchern:
Yasunari Kawabata, Schneeland, deutsch von Oscar Benl, dtvTaschenbuch
19706, München, 1987
Sei Shonagon, Das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei
Shonagon, aus dem Japanischen von Mamoru Watanabe, Manesse-Verlag, Zürich,
1988
Murasaki Shikibu, Die Geschichte vom Prinzen Genji, Bd. II,
übersetzt von Oscar Benl, Manesse-Verlag, ZÜrich, 1992
Banana
Yoshimoto, Kitchen, aus dem Japaischen von Wolfgang E. Schlecht, Diogenes,
Zürich, 1992
Schnee in der Lyrik gibt es u.a. in dem Band "Japanische Jahreszeiten - Tanka und Haiku aus dreizehn Jahrhunderten", aus dem Japanischen von Gerolf Coudenhove, Manesse-Verlag, Zürich, 7. Auflage 1994
Ruth Linhart, in gekürzter Fassung publiziert in profil extra Nr. 3 unter dem Titel "Weiße Herzen", Jänner 1998, S. 22, 23
Ruth Linhart | Texte | Email: ruth.linhart(a)chello.at |