Ruth Linhart | Japanologie


Japanische Lyrik - was ist ein Tanka, ein Haiku und ein Shi?

Tanka

Tanka heißt wörtlich kurzes Gedicht, ebenfalls dafür verwendet werden die Begriffe waka (japanisches Gedicht) und uta (Lied). Das Tanka ist ein Gedicht mit 31 Silben. Die Oberstrophe hat 5-7-5 Silben, die Unterstrophe 7-7 Silben. In der japanischen Dichtung seit dem Manyôshû (Sammlung von 10 000 Blättern, 8. Jahrhundert) die vorherrschende lyrische Form. Blütezeit 8. - 12. Jahrhundert, Erneuerung in der Meijizeit (1868-1912) durch Dichter wie z.B. Ishikawa Takuboku. Jahreszeitliche Erscheinungen und Phänomene der Natur symbolisieren Gefühle.

mono no aware : dichterisches Grundgefühl des Tanka. Bedeutet gefühlsmäßig berührt zu sein von Schönheit in Kombination mit einem scharfen Bewußtsein der Vergänglichkeit, Melancholie, Resignation, gleichzeitig Genuß dieser Traurigkeit, "süße Wehmut". Mitgefühl mit allen Dingen und Erscheinungen, die derselben Vergänglichkeit ausgesetzt sind. Sprachlich ausgedrückt wird dieses Gefühl durch Erscheinungen der Natur, die sich im Lauf der Jahreszeiten immer wieder ändern. Jahreszeiten sind nicht das einzige Thema der Gedichte, sie sind aber ein grundlegendes Element.

Renga

Zwischen 1000 und 1600 war das Renga, das Kettengedicht, äußerst beliebt. Es besteht aus aneinandergereihten Tanka, wobei eine Person die Oberstrophe dichtet und die nächste die Unterstrophe. Die nachfolgende Strophe muss jeweils mit der vorhergehenden Strophe einen Zusammenhang haben. Renga zu dichten war Gesellschaftsspiel, Wettbewerb oder geselliger Zeitvertreib. Meister mit ihren Schülern dichteten oder mehrere Meister maßen ihre Künste.

Haiku

Das Haiku entstand aus dem Renga.

Es besteht aus der Oberstufe des Renga mit 5-7-5 Silben. Bildete sich als Reaktion auf die in Banalität und Konventionalität erstarrten Tanka und dessen ausgelaugte Metaphern. Höhepunkt im 17. und 18. Jahrhundert von Matsuo Bashô (1644-1694) bis Kobayashi Issa (1763-1827). Erneuerung von Inhalten und Wortschatz in der Meiji-Zeit (1868-1912).

Haiku von Bashô, Kalligrafie des Dichters selbst. Aus dem Buch An Anthology of Haiku - Ancient and Modern von Asatarô Miyamori, Maruzen, Tokyo 1932
Haiku von Bashô

Ara-umi ya /
Sado ni yokotô /
ama no gawa
Übersetzung von Ruth Linhart

Ah, die rauhe See/
bis nach Sado hinüber reicht /
die Milchstrasse
Kalligrafie des Dichters selbst.
Aus dem Buch An Anthology of Haiku - Ancient and Modern von Asatarô Miyamori, Maruzen, Tokyo 1932

Im Haiku sind Natur und Jahreszeiten, aber auch das alltägliche Leben Themen. Die Naturerscheinungen sind keine Symbole für Gefühle, sondern unmittelbarer Gegenstand des Gedichts.

Das kurze Haiku ist in sich nochmals strukturiert in zwei inhaltliche Teile. Innere Spannung ist ein wichtiges Kennzeichen des Haiku: das Nahe und das Ferne, das kleine Ich und das große All, die Stille und der Lärm, der Moment und die Ewigkeit, Der Zustand und die Veränderung.

Häufig onomatopoetische Wortbildungen.

Häufig fehlen Satzteile, die im Japanischen leicht ausgelassen werden können, ohne dass das Verständnis leidet: persönliche Fürwörter, Subjekt, Prädikat.

kigo: Jahreszeitenwörter sind "der Nabel des Haiku". Sie sind die "Leitung zwischen DichterIn und LeserIn. Die Jahreszeitenwörter werden im Haiku, aber auch im Tanka und Renga verwendet. Sie umfassen jeweils für eine Jahreszeit typische Pflanzen, Tiere, Naturerscheinungen, Sitten und Gebräuche, Gegenstände etc. Das Jahreszeitenwort ordnet ein Gedicht sofort einer bestimmten Jahreszeit und damit auch einer bestimmten Stimmung zu. Es erweckt bzw. drückt ein für die Jahreszeit passendes Gefühl aus. Es ruft Assoziationen oder Assoziationsketten hervor. Die Jahreszeitenwörter tragen wesentlich dazu bei, dass trotz der Kürze inhaltliche Dichte und Tiefe möglich ist.

sabi und wabi: Dichterische Grundgefühle des Haiku.

sabi bedeutet tiefe innere Einsamkeit, Selbstgenügsamkeit, Verschmelzen mit der Umwelt, wabi bedeutet Schlichtheit, Einfachheit.

Sowohl das Tanka wie auch das Haiku sind noch immer beliebte Gattungen.

Shi

Shi bedeutet Gedicht, und zwar bezeichnet der Terminus ein längeres Gedicht als Tanka und Haiku. Der Begriff wurde ursprünglich für japanische Gedichte, die sich in Metrum, Sprache und Schriftbild an chinesische Vorbilder anlehnen, verwendet. Die genaue Bezeichnung dafür lautet kanshi.

In der Meiji-Zeit (1868-1912) erneuerten Dichter wie Shimazaki Tôson (1872-1943) und andere unter dem Einfluss der westlichen Lyrik auch das klassische japanische längere Gedicht und gaben ihm den Namen shintaishi - Gedicht im neuen Stil. Diese Bewegung führte zum modernen Shi, das nicht mehr in der klassischen literarischen Sprache, sondern in der Umgangssprache und in freien Rhythmen verfasst ist.


siehe auch Chronologie zu Chinoiserie

World Haiku Review


Ruth Linhart | Japanologie Email: ruth.linhart@chello.at