ZEITZEUGIN 3:
LAZARETTSCHWESTER HANSI NOWOTNY



"Am Heiligen Abend 1942 waren wir auf der Flucht. Da war so ein kleines langgezogenes Dorf in der Ukraine, links und rechts Häuser, und da hat man halt die Einheit verteilt. Ich hab so ein Stückerl von einem Föhrenzweig gefunden; wer den verloren hat, weiß ich nicht, denn in der Steppe ist ja nichts gewachsen. Mit dem Zweig bin ich von Hütte zu Hütte gegangen und hab frohe Weihnachten gewünscht.
   Aber bei der letzten Hütte konnte ich nimmer ...
   Wenn man das gesehen hat, und gedacht hat, zu Haus sitzen die Angehörigen und wissen gar nicht, in was für einer Situation ihre Leute sind! Die sind am Boden gesessen und haben Fotos rausgekramt, der eine hat Mundharmonika gespielt, der andere hat einen Brief geschrieben. Dann haben sie ein paar Hindenburg-Lichter angezündet, so Teelichter, die haben ganz schön geleuchtet. Die hat's immer zum Abendessen dazugegeben. Eine Rolle saure Drops und ein Hindenburglicht.
   Da am Heiligabend haben wir gekriegt, das weiß ich noch genau, einen Kanten Kommißbrot, ein Päckchen getrocknete Bananen, eine Tafel Schokolade und ein Stückchen Rohschinken oder Rauchfleisch. Das Brot war gefroren, das hast du nicht auseinanderschneiden können. Das einzige, was man essen hat können, waren die Bananen und die Schokolade.
   Der Heilige Abend ist dann so verlaufen: Da war man schon einquartiert. Mein Gott, das war eine Familie. Das ganze Haus bestand aus Zimmer und Küche. In der Küche ein ziemlich breites Bett. Da bin ich mit den Russinnen zu viert oder zu fünft, nicht der Länge nach sondern so geschichtet, drin gelegen. Aber die Russin, die Hausfrau, wußte jetzt, daß wir Heiligabend haben und die hat mir ein Stück Undefinierbares - heute würde man lachen -, ein Stück Pfannkuchen aus Mais und Kürbis - irgendein Gebäck hat sie mir gegeben, weil Heiligabend ist.
   Nein, die Russen dort waren nicht feindlich, kann man nicht sagen. Die haben das Letzte mit uns geteilt, obwohl sich die Deutschen manchmal schon nicht sehr fein benommen haben. Eine alte Kosakenfrau hat mir, wenn alles aus dem Haus war, einmal eine Tasse Milch oder ein Schlehenkompott gegeben. Ich hab ja nichts gehabt zum Zurückgeben, außer Hindenburglichter, saure Drops - und Salz, auf das waren sie scharf.
   Unser Chef hat immer gesagt: Eine Stube lassen wir den Russen. Die verstehen ihre Öfen zu heizen, wir verstehen das nicht. Die haben lauter so Schubladen gehabt, da haben's eine rausgezogen, dort eine zugemacht, und dann ist's warm geworden. Die Russen haben es eigentlich nicht gezeigt, wenn es schlimm für sie war.
   An dem Heiligen Abend waren wir 46 Leute, nur die Sanitätsgruppe. Das ist so: Die Sanitätskompanie ist ganz vorne bei der kämpfenden Truppe, dann kommt das Feldlazarett, das waren wir und hinten war das Kriegslazarett. Ein Ohrenarzt war da, ein Internist, zwei Chirurgen, der Chef war Neurologe. Die anderen waren Sanitäter und Fahrer. Kranke waren keine mehr da, die hat man schon nach hinten geschafft.
   Also, plötzlich an dem Heiligen Abend sagt jemand: ' Der Russe ist durchgebrochen.' Alles stürzt in die Autos und haut ab. Und so nach 14 km holt uns der Chef ein mit seinem Wagen. Und jetzt ist ein Donnerwetter niedergegangen. Wer den Befehl gegeben hat? Jetzt können Sie sich vorstellen, ein Durcheinand, eine Menge Autos, finster und alle wieder zurück.
   Also die Russen sind natürlich wieder in ihren Betten drin gelegen. Jetzt kommen wir wieder daher! Ich hab mich so geschämt. So geschämt. Ich bin nicht reingegangen in das Haus. Unser Cheffahrer, der hat ein Magenleiden gehabt und der sagt zu mir, ob ich für ein bis zwei Stunden sein Auto bewachen tät. Er möcht sich so gern hinlegen. Hab ich gesagt: ' Ja, das mach ich.' Und sitz im Auto drin. Myriaden von Sternen, also so etwas hab ich nie wieder gesehen wie damals. Das war ein Geglitzer und Gefunkel, und das war die Heilige Nacht. Ich hab mir gedacht, zu Haus, die sitzen vor dem Christbaum, und wir haben den Christbaum am Himmel!
   In der Früh, dann kommt auf einmal mein Chef aus der Kate und sieht mich im Auto drin sitzen. Und der hat geschimpft, wie man eine Schwester mutterseelenallein im Auto drin sitzen lassen kann. Ich hab mir manchmal gedacht, da hab ich ein Glück gehabt, es hätt ja genausogut ein Partisan daherkommen können. Aber ich weiß nicht, ich hab immer so das Gefühl gehabt: Ich komm durch, ich komm nach Haus, und das hat auch gestimmt."


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