Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE RUSSLAND I

Wien, 30. September 1942

Bild klickbar



Kommentar

Ich bin heute in eine isolierte Stellung hineingezwungen, nicht aus eigenem Trieb und nicht aus Asozialität, sondern weil ich auch in eine Oppositions-Stellung hineingezwungen bin. Niemand kann das tiefer bedauern als ich selbst, wo ich doch seit der Jugendbewegung freiwillig und mit Begeisterung im tätigen Leben für die Gemeinschaft und für unsere Idee gestanden bin und aus tiefer Überzeugung die Forderung nach einem sozialen Leben miterhebe. Aber die jetzt herrschende Ideenrichtung, die alle Begriffe und Gefühle rnißbraucht, hat auch dieses Ideal verfälscht und den wirklich sozialen Menschen zwangsisoliert.
Das Buch von Max Adler, das ich jetzt lese, ist so wunderbar und so weit vorausblickend.
Ich komme wieder zurück zu dem Punkt, wo ich einmal ausgegangen bin, als ich angefangen habe, mich mit dem Sozialismus zu befassen und mir dadurch ein Weltbild ohne Widersprüche in schönster Harmonie erstanden ist. Viel Zeit ist seitdem vergangen, gute 17 Jahre, vieles ist dazwischen geschehen und in viele Dinge habe ich Einblick gewonnen, alles das, was man deutsche Kultur nennt, habe ich inzwischen, wenn auch leider nur sehr oberflächlich, kennengelernt, oder besser gesagt eine Ahnung davon bekommen, aber ich glaube trotzdem, daß es mindestens für unsere jetzigen Bedürfnisse nichts Besseres und Vollkommeneres gibt als den Marxismus. Er allein ist imstande, auf die weitaus meisten Fragen und Probleme unserer und wohl auch noch der nächsten Generation erschöpfende und befriedigende Antwort zu geben.
Gerade Max Adler weist in einer tiefgehenden Betrachtung auf einen Umstand hin, der mir selbst oft zu denken gegeben hat: Auf die geistesgeschichtliche Verwandtschaft des modernen Sozialismus und der klassischen deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts, als da ist Kant, Hegel, Fichte u.a.m. Dieses war damals die Ideologie des aufstrebenden kämpfenden Bürgertums, bevor es zur Macht gelangt war. Denn kaum zur Macht gelangt, hat es alle seine Ideale verleugnet, und daher blieben soviele der damaligen Forderungen unerfüllt bis zum heutigen Tage.
Und heute? Sind wir davon mehr entfernt als je. Man könnte fast verzweifeln, wenn man sieht, wie heute mit flatternden Fahnen gerade in die entgegengesetzte Richtung marschiert wird, in eine Richtung, wo keinerlei Ziel liegt für die vielen gläubigen und vertrauenden Menschen. Wann wird sich dieser Irrtum so offen herausstellen, daß alle ihn erkennen?


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen