Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE RUSSLAND I

Wien, 27. März 1942

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Kommentar

Gestern war wieder ein Tag, wo ich Dir nicht geschrieben habe, aber in der Nacht vorher hatten wir zum erstenmal in Wien Fliegeralarm, und zwar begann er nach 2 Uhr nachts und war etwas nach 3 Uhr zu Ende. Da es zum erstenmal in meinem Leben war, war die Sache für mich einigermaßen neu und aufregend, sämtliche Bewohner unseres Hauses waren aufgestanden, und schießlich versammelten sich alle auf Stiegen und Gängen und wir landeten zum Schluss im Haustor.
Da niemand wußte, was eigentlich zu tun sei, ob wir zu unserem zuständigen Luftschutzraum vis à vis in der Kirche gehen sollten oder sonstwohin, so warteten wir, bis die als Kundschafter ausgeschickten Hausbewohner eine Weisung bringen würden. Aber der Luftschutzraum in der Kirche gegenüber erwies sich als fest verschlossen, und schließlich wurde in Erfahrung gebracht, daß er bereits aufgelassen sei und wir daher in die Waidhausenstraße zu gehen hätten.
Die Meinungen gingen sehr erregt hin und her, und bevor wir zu einem Entschluß gelangten, ertönte die Entwarnung. Ich selbst habe mich bei der ganzen Angelegenheit sehr wenig aufgeregt, eigentlich nur im ersten Augenblick, als die Sirene ertönte. Später erheiterte mich die ganze Sache mehr als sie mich aufregte, besonders als ich das Durcheinander der aufgeregten Hausbewohner mitansehen konnte.
Wie Du die Osterfeiertage zubringen wirst, davon habe ich nicht einmal eine Vorstellung, und ich werde die Feiertage unter den bescheidensten Bedingungen zubringen, die man sich nur denken kann. Wir werden so gut wie nichts zu essen haben, nirgends hinfahren können, sondern werden froh sein müssen, wenn es wenigstens die Sonne ein bißchen gut mit uns meint.

Immer wieder muß ich an jene Nacht vom 11. zum 12. März 1938 zurückdenken, als ich mit fast prophetischem Blick inmitten des Jubels großer Menschenmassen eine düstere Zukunft vor uns sah. Ich kann es heute sagen, es ist alles so eingetroffen, was ich damals vorausahnte: Nicht schrecklicher, da ich ohnehin das Schrecklichste befürchtete, und nicht leichter.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen