Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE ZWISCHEN KRIEG UND FRIEDEN

Wien, 24. Juni 1945



Ich habe gestern mit größter Freude Dein liebes Brieflein vom 18. Juni bekommen. Ich war überglücklich, endlich wieder ein direktes Lebenszeichen von Dir selbst in Händen zu haben, sodaß Du mit Deinem lieben Brief wieder ganz unmittelbar vor meine Seele getreten bist als etwas Wirkliches und Lebendiges, denn in meinem Herzen habe ich Dich die letzten Wochen nur wie einen Traum getragen. Ein Traum von etwas Vergangenem und gleichzeitig ein Wunschtraum für die Zukunft, aber keine Gegenwart. Nun hast Du wieder bei mir angeklopft und Du weißt, ich bin Dein Zuhause. Erst dann, wenn Du wieder bei mir zu Hause bist, hat für mich der Frieden begonnen. Jetzt ist eine Zwischenzeit zwischen Krieg und Frieden, und es liegt weder in Deiner noch in meiner Hand, den Friedenszustand zu erzwingen. Bei uns in Wien ist kein Frieden, und unser Leben ist sehr bitter. Ich kann nicht mit gutem Gewissen sagen, daß ich Dir anraten könnte, auf jeden Fall nach Hause zu kommen. Aber wenn Du kommst, werde ich darüber glücklich sein.
Es ist jetzt nicht angenehm, allein in der Wohnung zu sein, in unserem Haus sind russische Soldaten, und das ergibt manchmal unangenehme Begleiterscheinungen. Mit unserer Ernährung ist es sehr schlecht bestellt. Wir in unserer Familie haben ja noch Vorräte, aber dem Winter schaue ich doch mit großer Angst entgegen. Durch die Unterernährung sind bereits mancherlei Krankheitserscheinungen zu beobachten an sehr vielen Menschen (meistens in Form von starkem Durchfall, der die Menschen sehr hernimmt, und  j e d e r  von uns war oder ist schon davon betroffen gewesen). Ich selber habe noch eine andere unangenehme Sache gehabt und zwar die sogenannte Scabies (Krätze), die durch die vielen Fremden wahrscheinlich eingeschleppt worden ist, und auch Läuse habe ich erwischt (Filzläuse!), aber ich habe beides Gott sei Dank bald wieder angebracht. Ruhr und Typhus grassieren sehr stark in Wien, hoffentlich kommt es nicht zu großen Epidemien. Die sanitären Verhältnisse sind sehr bedrohlich, die Müllabfuhr funktioniert seit Monaten nicht, daher liegen in den Straßen Berge von Mist und Abfällen, von Millionen Fliegen belagert. Es gibt kein Fuhrwerk für die Beseitigung. Es ist einfach nichts da. Gas gibt es auch überhaupt keines, der elektrische Strom ist sehr oft gestört, Straßenbahn gibt es nach wie vor nur ganz wenige Linien, seit Wochen ist überhaupt keine neue Linie dazugekommen. Bei uns im Büro gibt es seit dem 12. März noch immer keinen Tropfen Wasser, das ist für die Klosettverhältnisse einfach verheerend. Die Gemeinde Wien tut gewiß, was sie kann, aber es ist auch ganz gewiß nicht ihre Schuld, wenn sie nicht mehr tun kann.
Du wirst ja wahrscheinlich wissen, daß der derzeitige Bürgermeister von Wien der General Körner ist, Stadträte sind unter anderem Speiser, Weber, Honay und unser Beppo Afritsch. Gestern nachmittag war beim Rathaus eine große Begrüßungskundgebung für unseren Genossen Karl Seitz, der vorgestern aus Thüringen zurückgekommen ist. Daß die Regierung aus unserem Genossen Karl Renner als Staatskanzler besteht, wirst Du ja auch wohl wissen. Wir haben auch in Wien eine Zeitung, betitelt "Neues Österreich", die für alle drei zugelassenen politischen Parteien schreibt und täglich mit Ausnahme von Montag erscheint. Da sie die einzige Zeitung ist und nur in beschränkter Anzahl erscheint, auch nur in wenigen Trafiken und vorwiegend durch Kolporteure verkauft wird, so stellen sich tagtäglich Tausende Menschen stundenlang an, um eine Zeitung zu bekommen. Kinos und Theater funktionieren bei uns schon sehr viele, aber ich bin noch nirgends gewesen. Auch Konzerte gibt es wieder, auch philharmonische. Alles andere stockt hoffnungslos. Auch der Wiederaufbau von zerstörten Gebäuden, ja nur die notwendigsten und geringfügigsten Reparaturarbeiten gehen nur in geringstem Ausmaß vonstatten, und die günstige Witterung in der jetzigen schönen Jahreszeit kann aus irgendwelchen Gründen überhaupt nicht genützt werden.
Wir arbeiten bereits auch wieder in unserer Sektion, ich bin dort Schriftführer, Vater ist Kassier. Auch ein Bezirkssekretariat haben wir wieder, und die Unterrichtsorganisation ist auch wieder im Entstehen.
In der Kasse bemühen wir uns nach besten Kräften, aber die Schwierigkeiten sind doch großer Art. Robert Uhlir ist Direktorstellvertreter, Dr. Melas ist Sekretär, die anderen wirst Du nicht kennen. Unsere Arbeit ist Schritt für Schritt mit größten Hindernissen verbunden, zum Beispiel haben wir überhaupt kein Telefon im ganzen Haus. Die Gehalts-, Lohn- und Pensionsauszahlungen sind stark im Rückstand. Es mangelt überall an Bargeld, die Banken und Postsparkassen haben erst vor kurzem zu funktionieren begonnen, aber auch das nur in einem bescheidenen Ausmaß. Wir sind heute in einem Zustand, daß wir nicht leben und nicht sterben können. Trotzdem dürfen wir den Mut nicht sinken lassen. Spatzili, Du kannst Dir denken, wie sehr mich alle diese Probleme zutiefst bewegen und wie traurig ich manchmal bin, wenn ich alle die Trümmer einer schöneren Vergangenheit betrachte.
Ich selbst werde in absehbarer Zeit nicht nach Steyr kommen können, auch wenn ich mich vom Büro freimachen könnte, denn erstens ist die Bahnfahrtmöglichkeit nur eine sehr beschränkte, und zweitens kann ich unmöglich die Wohnung für ein paar Tage allein lassen.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen