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Ich habe gestern mit
größter Freude Dein liebes Brieflein vom 18. Juni bekommen.
Ich war überglücklich, endlich wieder ein direktes Lebenszeichen von
Dir selbst in Händen zu haben, sodaß Du mit Deinem lieben Brief
wieder ganz unmittelbar vor meine Seele getreten bist als etwas Wirkliches und
Lebendiges, denn in meinem Herzen habe ich Dich die letzten Wochen nur wie
einen Traum getragen. Ein Traum von etwas Vergangenem und gleichzeitig ein
Wunschtraum für die Zukunft, aber keine Gegenwart. Nun hast Du wieder bei
mir angeklopft und Du weißt, ich bin Dein Zuhause. Erst dann, wenn Du
wieder bei mir zu Hause bist, hat für mich der Frieden begonnen. Jetzt ist
eine Zwischenzeit zwischen Krieg und Frieden, und es liegt weder in Deiner noch
in meiner Hand, den Friedenszustand zu erzwingen. Bei uns in Wien ist kein
Frieden, und unser Leben ist sehr bitter. Ich kann nicht mit gutem Gewissen
sagen, daß ich Dir anraten könnte, auf jeden Fall nach Hause zu
kommen. Aber wenn Du kommst, werde ich darüber glücklich sein. Es
ist jetzt nicht angenehm, allein in der Wohnung zu sein, in unserem Haus sind
russische Soldaten, und das ergibt manchmal unangenehme Begleiterscheinungen.
Mit unserer Ernährung ist es sehr schlecht bestellt. Wir in unserer
Familie haben ja noch Vorräte, aber dem Winter schaue ich doch mit
großer Angst entgegen. Durch die Unterernährung sind bereits
mancherlei Krankheitserscheinungen zu beobachten an sehr vielen Menschen
(meistens in Form von starkem Durchfall, der die Menschen sehr hernimmt,
und j e d e r von uns war oder ist
schon davon betroffen gewesen). Ich selber habe noch eine andere unangenehme
Sache gehabt und zwar die sogenannte Scabies (Krätze), die durch die
vielen Fremden wahrscheinlich eingeschleppt worden ist, und auch Läuse
habe ich erwischt (Filzläuse!), aber ich habe beides Gott sei Dank bald
wieder angebracht. Ruhr und Typhus grassieren sehr stark in Wien, hoffentlich
kommt es nicht zu großen Epidemien. Die sanitären
Verhältnisse sind sehr bedrohlich, die Müllabfuhr funktioniert seit
Monaten nicht, daher liegen in den Straßen Berge von Mist und
Abfällen, von Millionen Fliegen belagert. Es gibt kein Fuhrwerk für
die Beseitigung. Es ist einfach nichts da. Gas gibt es auch
überhaupt keines, der elektrische Strom ist sehr oft gestört,
Straßenbahn gibt es nach wie vor nur ganz wenige Linien, seit Wochen ist
überhaupt keine neue Linie dazugekommen. Bei uns im Büro gibt es seit
dem 12. März noch immer keinen Tropfen Wasser, das ist für die
Klosettverhältnisse einfach verheerend. Die Gemeinde Wien tut gewiß,
was sie kann, aber es ist auch ganz gewiß nicht ihre Schuld, wenn sie
nicht mehr tun kann. Du wirst ja wahrscheinlich wissen, daß der
derzeitige Bürgermeister von Wien der
General
Körner ist, Stadträte sind unter anderem Speiser, Weber, Honay
und unser Beppo Afritsch. Gestern nachmittag war beim Rathaus eine große
Begrüßungskundgebung für unseren Genossen
Karl Seitz, der
vorgestern aus Thüringen zurückgekommen ist. Daß die Regierung
aus unserem Genossen Karl Renner als
Staatskanzler besteht, wirst Du ja auch wohl wissen. Wir haben auch in Wien
eine Zeitung, betitelt "Neues Österreich", die für alle drei
zugelassenen politischen Parteien schreibt und täglich mit Ausnahme von
Montag erscheint. Da sie die einzige Zeitung ist und nur in beschränkter
Anzahl erscheint, auch nur in wenigen Trafiken und vorwiegend durch
Kolporteure verkauft wird, so stellen sich tagtäglich Tausende Menschen
stundenlang an, um eine Zeitung zu bekommen. Kinos und Theater funktionieren
bei uns schon sehr viele, aber ich bin noch nirgends gewesen. Auch Konzerte
gibt es wieder, auch philharmonische. Alles andere stockt hoffnungslos. Auch
der Wiederaufbau von zerstörten Gebäuden, ja nur die notwendigsten
und geringfügigsten Reparaturarbeiten gehen nur in geringstem Ausmaß
vonstatten, und die günstige Witterung in der jetzigen schönen
Jahreszeit kann aus irgendwelchen Gründen überhaupt nicht
genützt werden. Wir arbeiten bereits auch wieder in unserer Sektion,
ich bin dort Schriftführer, Vater ist Kassier. Auch ein Bezirkssekretariat
haben wir wieder, und die Unterrichtsorganisation ist auch wieder im Entstehen.
In der Kasse bemühen wir uns nach besten Kräften, aber die
Schwierigkeiten sind doch großer Art. Robert Uhlir ist
Direktorstellvertreter, Dr. Melas ist Sekretär, die anderen wirst Du nicht
kennen. Unsere Arbeit ist Schritt für Schritt mit größten
Hindernissen verbunden, zum Beispiel haben wir überhaupt kein
Telefon im ganzen Haus. Die Gehalts-, Lohn- und Pensionsauszahlungen sind
stark im Rückstand. Es mangelt überall an Bargeld, die Banken und
Postsparkassen haben erst vor kurzem zu funktionieren begonnen, aber auch das
nur in einem bescheidenen Ausmaß. Wir sind heute in einem Zustand,
daß wir nicht leben und nicht sterben können. Trotzdem dürfen
wir den Mut nicht sinken lassen. Spatzili, Du kannst Dir denken, wie sehr mich
alle diese Probleme zutiefst bewegen und wie traurig ich manchmal bin, wenn ich
alle die Trümmer einer schöneren Vergangenheit betrachte. Ich
selbst werde in absehbarer Zeit nicht nach Steyr kommen können, auch wenn
ich mich vom Büro freimachen könnte, denn erstens ist die
Bahnfahrtmöglichkeit nur eine sehr beschränkte, und zweitens kann ich
unmöglich die Wohnung für ein paar Tage allein lassen.
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